VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 30.07.2010 - A 3 L 352/10 - asyl.net: M18118
https://www.asyl.net/rsdb/M18118
Leitsatz:

Zur Asylantragstellung nach Weiterleitung an die zuständige Aufnahmereinrichtung (§ 22 AsylVfG). Den Antragsteller trifft an der verspäteten Antragstellung kein Verschulden, da er von seinem Rechtsanwalt falsch beraten wurde und ihm dies nicht als eigenes Verschulden zugerechnet werden kann, da es sich bei der Meldung bei der zuständigen Aufnahmeeinrichtung nach § 20 Abs. 1 AsylVfG um eine höchstpersönliche Pflicht handelt. Er war zudem erkrankt.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Asylantrag, Aufnahmeeinrichtung, Asylfolgeantrag, Verschulden, Fahrlässigkeit, Rechtsanwalt, Zurechnung, Reisefähigkeit, Krankheit, Amtsermittlung, Sachaufklärungspflicht, Meldepflicht,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 22 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 14 Abs. 1, AsylVfG § 22 Abs. 1 S. 2, AsylVfG § 22 Abs. 3, AsylVfG § 71, AsylVfG § 36 Abs. 4 S. 1, AsylVfG § 20 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hat sich ein Ausländer, der den Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamtes zu stellen hat (§ 14 Abs. 1 AsylVfG), in einer Aufnahmeeinrichtung persönlich zu melden. Diese nimmt ihn auf oder leitet ihn an die für seine Aufnahme zuständige Aufnahmeeinrichtung weiter (§ 22 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz AsylVfG). Gemäß § 22 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ist der Ausländer verpflichtet, der Weiterleitung an die für ihn zuständige Aufnahmeeinrichtung nach Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 2 unverzüglich oder bis zu einem ihm von der Aufnahmeeinrichtung genannten Zeitpunkt zu folgen. Kommt der Ausländer der Verpflichtung nach Satz 1 vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nach, so gilt § 20 Abs. 2 und 3 entsprechend (§ 22 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG). Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG findet für einen später gestellten Asylantrag § 71 AsylVfG entsprechende Anwendung.

Der auf dieser Grundlage beruhende Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. Juni 2010 begegnet allerdings ernstlichen Zweifeln im Sinne von § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG. Denn es spricht einiges dafür, dass die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 AsylVfG hier nicht vorliegen. Danach gilt § 71 Abs. 4 AsylVfG einschließlich seines ausdrücklichen Rechtsfolgenverweises auf § 36 Abs. 1 AsylVfG und der damit mittelbar einhergehenden Folge der Unanwendbarkeit von § 75 AsylVfG nur dann entsprechend, wenn ein Ausländer nach der Stellung seines Asylgesuchs vorsätzlich oder grob fahrlässig der Verpflichtung aus § 20 Absatz 1 AsylVfG, sich bis zu einem von der Behörde genannten Zeitpunkt in der zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu melden, nicht nachkommt. Die Anwendung des § 20 Abs. 2 AsylVfG verlangt einen qualifizierten Schuldvorwurf gegenüber dem Ausländer. Dies ergibt sich über den Wortlaut hinaus auch daraus, dass die Vorschrift in ihrer jetzigen Fassung erst im Zuge einer Beschlussempfehlung des Innenausschusses (vgl. BT-Drucksache 14/8395, S. 80) Eingang in das Gesetzgebungsverfahren gefunden hat; zuvor genügte einfache Fahrlässigkeit. Ein qualifizierter Schuldvorwurf ist einem Ausländer jedoch nur dann zu machen, wenn er in grober Achtlosigkeit seine Pflicht aus § 20 Abs. 1 AsylVfG verletzt hat (vgl. VG Magdeburg, Beschluss vom 21. März 2006, Az. 9 B 129/06.MD, Juris, Treiber in: GK-AsylVfG, Band II, Stand: Juni 2007, § 20, Rdnr. 50; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 6. Auflage, Seite 382).

Gesundheitliche Beeinträchtigungen können diesen Verschuldensvorwurf entfallen lassen, wenn sie von einen solchen Gewicht sind, dass sie der Pflichterfüllung tatsächlich entgegen stehen. Wer sich bloß allgemein und ohne Attest sowie ohne den Versuch, medizinische Abhilfe zu erlangen, pauschal auf gesundheitliche Probleme beruft, entlastet sich damit ebenso wenig vom Vorwurf grober Fahrlässigkeit wie derjenige, der trotz klarer und bestätigter Belehrung Ratschlägen eines Dritten, wie zu verfahren sei, Vorrang gegenüber den eindeutigen gesetzlichen Verpflichtungen einräumt (vgl. Treiber, a.a.O., Rdnr. 50).

Von einer groben Pflichtverletzung ist jedoch dann nicht auszugehen, wenn ein Ausländer glaubhaft vorträgt, er habe sich lediglich darauf verlassen, was ihm von seinem Prozessbevollmächtigten angeraten worden sei. Ihm kann in einem solchen Fall nicht vorgehalten werden, dass er sich das Verhalten seines Prozessbevollmächtigten als eigenes Verschulden zurechnen lassen muss. Denn ein Auftraggeber muss sich nur dann das Handeln eines beauftragten Dritten zurechnen lassen, wenn der Beauftragte überhaupt in der Lage ist, die Handlungen für den Auftraggeber vorzunehmen. Dies ist jedoch bei der höchstpersönlich zu befolgenden Pflicht aus § 20 Abs. 1 AsylVfG nicht der Fall, weshalb allein auf das persönliche Verschulden des Ausländers abzustellen ist (vgl. VG Madgeburg, a.a.O.).

In Anwendung dieser Maßstäbe bestehen zum gegenwärtigen, insoweit entscheidungserheblichen Zeitpunkt (vgl. § 77 AsylVfG) erhebliche Zweifel daran, dass dem Antragsteller ein grob fahrlässiges Verhalten vorgeworfen werden kann. Es spricht viel dafür, dass dem Antragsteller trotz der ihm vom Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin (Zentrale Aufnahmeeinrichtung des Landes Berlin für Asylbewerber) mit Schreiben vom 7. Mai 2009 in serbokroatischer Sprache und gegen Empfangsbekenntnis bekannt gemachten Zuweisung in die Erstaufnahmeeinrichtung Chemnitz bis zum 15. Mai 2009 kein qualifizierter Schuldvorwurf im Sinne einer groben Fahrlässigkeit gemacht werden kann.

Denn zum einen hat der Antragsteller innerhalb der ihm gesetzten Frist am 12. Mai 2009 die Fachärztin ... aufgesucht und von dieser eine auf den 13. Mai 2009 datierte umfangreiche Stellungnahme erhalten, in der ihm seine "gegenwärtige" Reiseunfähigkeit attestiert wurde. Die Stellungnahme wurde vom Antragsteller auch in seiner Anhörung durch die Beklagte vorgelegt. Seine Lebensgefährtin hat zudem in ihrer Anhörung angegeben, dass der Antragsteller bis zum 12. Juni 2010 erkrankt gewesen sei. Gleichwohl hat die Antragsgegnerin dies nicht zum Anlass für weitere Nachfragen oder zur anderweitigen Aufklärung des Sachverhalts genommen. Obwohl insoweit bereits Anhaltspunkte bestanden, die gegen die Annahme einer groben Fahrlässigkeit hinsichtlich der Einhaltung der Meldefrist bestanden, hat die Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller und seiner Lebensgefährtin nur darauf hingewiesen, dass sie diese nicht für ausreichend halte und das Verfahren daher als Asylfolgeverfahren führe.

Zum anderen erachtet es die Kammer als entscheidend, dass der Antragsteller nunmehr glaubhaft vorgetragen hat, dass er letztlich (auch) auf Grund einer unrichtigen Beratung durch seinen Verfahrensbevollmächtigten seiner Verpflichtung zur fristgemäßen Antragstellung in Chemnitz nicht nachgekommen ist. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Darstellung, die zumindest die Lebensgefährtin des Antragstellers in ihrer informatorischen Befragung durch die Antragsgegnerin bereits hat anklingen lassen, falsch ist. Der Antragsteller hat zeitnah nach seiner Einreise Kontakt mit einem Rechtsanwalt aufgenommen und sich darum bemüht, in Berlin bleiben zu können, wo seine Verwandtschaft wohnt. Dass sein Verfahrensbevollmächtigter dieses Begehren - wie möglicherweise bereits in früheren Verfahren - fehlerhaft gegenüber der Antragsgegnerin geäußert hat, ist hier zwar einerseits unbeachtlich, zeugt jedoch andererseits davon, in welcher Art und Weise der Bevollmächtigte die Belange des Antragstellers und seiner Familie wahrgenommen hat, was Anhaltspunkte für den Wahrheitsgehalt des vom Antragsteller vorgetragenen unrichtigen Hinweises durch ihn an seine Mandanten zu geben geeignet ist (siehe insoweit auch VG Magdeburg, a.a.O.). Dafür, dass der Antragsteller seine Pflicht aus § 20 Abs. 1 AsylVfG nicht in einer an Vorsatz grenzenden Fahrlässigkeit außer acht gelassen haben, spricht auch der Umstand, dass er offensichtlich regelmäßig und zeitnah Kontakt mit seinem Bevollmächtigten hielt, was ihn in die Lage versetzte, sich zeitnah nach Erhalt des Schreibens der Antragsgegnerin vom 4. Juni 2009 nach Chemnitz zu begeben (vgl. auch insoweit die weitgehende Parallelität zum Fall des VG Magdeburg, a.a.O.).

Es spricht mithin vieles dafür, dass die Antragsgegnerin den bei ihr am 16. Juni 2009 gestellten Asylantrag als Erstantrag hätte behandeln müssen, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12. Juli 2010 mit der sich analog aus § 37 Abs. 2 AsylVfG ergebenden Rechtsfolge anzuordnen war. [...]