VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 07.12.2010 - 3 L 625/10.A - asyl.net: M18105
https://www.asyl.net/rsdb/M18105
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien. Das Gericht verkennt nicht, dass in der Rechtsprechung bisher nur wenige konkrete Hinweise darauf vorliegen, dass das Asylverfahren in Italien nicht in vollem Umfang dem Konzept der normativen Vergewisserung entspricht. Diesen Hinweisen ist jedoch nachzugehen. Der Antragsteller trägt vor, in Rom nicht darüber informiert worden zu sein, dass durch die Abgabe von Fingerabdrücken ein Asylverfahren eingeleitet wurde. Nach seinen Angaben wurde er weder über den Verfahrensverlauf informiert noch zu seinen Asylgründen befragt; vielmehr wurde er aufgefordert, Italien unverzüglich zu verlassen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, einstweilige Anordnung, Obdachlosigkeit, Asylverfahren,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

Das Gericht verkennt nicht, dass in der Rechtsprechung bisher nur ausnahmsweise konkrete Hinweise darauf festgestellt worden sind, dass das Asylverfahren in Italien nicht in vollem Umfang dem Konzept der normativen Vergewisserung entsprechen könnte. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass es solche Hinweise gibt, die auch Anlass geben, ihnen nachzugehen. Dem Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht vom November 2009 über die "Rückschaffung in den sicheren Drittstaat Italien" entnimmt das Gericht, dass ein Asylgesuch in Italien laut Gesetz bei der Polizeistelle an der Grenze oder bei der Questura gestellt werden kann. Das Asylgesuch wird dann an eine der sieben territorialen Kommissionen weitergeleitet, die eine einmalige Befragung durchführen und über Asylanträge entscheiden. Asylsuchende sollten bis zum Asylentscheid in einem Empfangszentrum für Asylsuchende aufgenommen werden. Viele Asylsuchende finden dort jedoch keinen Aufnahmeplatz. In Rom warteten im November 2009 2.300 Personen auf einen Platz im Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge; es gab dort damals jedoch nur 200 Plätze. Eine Sprecherin von caritas Rom riet damals dringend davon ab, Asylsuchende nach Rom zurückzuschaffen. Weiter heißt es in dem genannten Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Dublin-Rückkehrer/innen würden in Bezug auf Aufnahmeplätze bevorzugt behandelt. Wenn jedoch kein Platz da sei, würden sie auf eine Warteliste gesetzt. Die meisten nach Italien zurückgeführten Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlinge seien deshalb obdachlos. Ob über ihr Asylgesuch entschieden worden sei, wüssten in der Regel nur diejenigen, die in Italien eine feste Postadresse oder eine Rechtsvertretung hätten. Wenn sie in Italien ein Asylgesuch gestellt hätten und während der Wartezeit auf die Asylbefragung ausgereist seien, werde in ihrer Abwesenheit entschieden. Gesuche von Asylbewerbern, die nicht zur Asylbefragung erschienen, würden in der Regel abgelehnt ("abgeschrieben").

Vor dem Hintergrund dieser Schilderung hält das Gericht es für möglich, dass es zutrifft, was der Antragsteller mit Schriftsatz vom 01.12.2010 und der eidesstattlichen Versicherung vom 22.11.2010 vorträgt. Danach ist er in Rom nicht darüber informiert worden, dass durch die Abgabe der Fingerabdrücke ein Asylverfahren eingeleitet wurde. Nach seinen Angaben wurde er weder über den Verfahrensablauf informiert noch zu seinen Asylgründen befragt; vielmehr wurde er aufgefordert, Italien unverzüglich zu verlassen. Die Glaubwürdigkeit des Berichtes der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und der genannten Angaben des Antragstellers wird durch das Vorbringen der Antragsgegnerin in diesem Verfahren nicht in Frage gestellt. In der Antragserwiderung im Schriftsatz vom 18.11.2010 werden lediglich die normative Regelung des Flüchtlingsrechts in Italien und die Zielsetzung der dort tätigen humanitären Organisationen beschrieben. Auf die Frage, wie die Lage tatsächlich ist, geht die Antragsgegnerin nicht ein.

Bei dieser Sachlage sind die Erfolgsaussichten des in Deutschland gestellten Asylantrages weder offensichtlich zu verneinen noch zu bejahen. Es ist eine Prüfung tatsächlich und rechtlich komplexer Fragen erforderlich, die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich ist. [...]