VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.12.2010 - 7a K 1894/10.A - asyl.net: M18101
https://www.asyl.net/rsdb/M18101
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für betreuungsbedürftige kranke Romni (insulinpflichtiger Diabetes mellitus, psychische Erkrankung usw.) hinsichtlich Kosovo. Nach den jüngsten Lageberichten des Auswärtigen Amtes kann die Medikamentenversorgung im staatlichen Gesundheitswesen mangels ausreichender finanzieller Mittel lediglich zu 30 % sichergestellt werden. Ergänzend weisen Hilfsorganisationen darauf hin, dass jede Leistung im Gesundheitswesen bezahlt werden muss. Dies gilt insbesondere für Minderheiten im Kosovo, für die der Zugang zu staatlichen Leistungen ohnehin erschwert ist. Nach jüngster Auskunft des Auswärtigen Amtes sind zudem nur wenige Roma-Familien in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, eine nachhaltige Besserung ist bis heute nicht eingetreten.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Roma, Diabetes mellitus, Insulin, psychische Erkrankung, Depression, Nierensteine, Betreuung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Ausweislich des vom Gericht eingeholten Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. leidet die Klägerin neben nach wie vor behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankungen/Störungen unter einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus, chronisch wiederkehrenden Nierensteinen, einer Magenschleimhautentzündung und einer Fettstoffwechselstörung. Der Gutachter hält die medikamentöse Behandlung insbesondere in diabetischer Hinsicht für lebensnotwendig. Auch die weitere medikamentöse psychiatrische Behandlung sei erforderlich. Zusammenfassend gelangt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass die Klägerin bedingt durch ihre mehrjährigen Gesundheitsstörungen und aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage sei, die z.T. lebensnotwendigen Medikamente selbständig und regelmäßig einzunehmen. Sie sei zu eigenen Willensanstrengungen nur sehr eingeschränkt in der Lage. Daher hält der Gutachter eine Betreuung für geboten, die derzeit durch die Schwiegertochter erfolgt. [...]

Legt man die danach lebensnotwendige termingerechte Versorgung mit Medikamenten insbesondere zur Beherrschung der Diabetes-Erkrankung sowie die festgestellte Betreuungsbedürftigkeit der Klägerin durch eine Person, die die Medikamenteneinnahme reguliert zugrunde, so gelangt die Kammer unter Anlegung des vorangestellten strengen Maßstabes und nach Auswertung aller vorliegenden Erkenntnisse zu der Überzeugung, dass die Rückführung der Klägerin in ihre Heimat zu einer zu einer ernsthaften Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes i.S.d. dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts führen wird. Von einer solchen geht auch der Gutachter aus.

Die Kammer ist der Überzeugung, dass die notwendige medikamentöse Behandlung und die erforderliche Betreuung der Klägerin aber auf unabsehbare Zeit in ihrer Heimat für sie nicht erreichbar ist.

Dabei geht die Kammer zunächst von Folgendem aus:

Depressionen mit Angststörungen sind nach Auskünften des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo grundsätzlich sowohl medikamentös als auch unterstützend durch supportive Gespräche behandelbar; entsprechendes gilt auch für die Grunderkrankung Diabetes mellitus Typ II (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Kassel vom 20. November 2003, Deutsches Verbindungsbüro Kosovo vom 18. Juni und 7. Oktober 2004 an das Bundesamt, vom 21. Oktober 2004 an die Ausländerbehörde der Stadt N. , vom 21. Juli 2006 an das VG Düsseldorf; zum Diabetes mellitus Typ II vgl. auch: Deutsches Verbindungsbüro Kosovo vom 27. September 2006 an das VG Sigmaringen; vgl. zu allem auch: OVG NRW, Beschluss vom 20. September 2006 - 13 A 1740/05.A -, juris, m.w.N.).

Für Rückkehrer u.a. aus Nordrhein-Westfalen stehen insbesondere seit 2008, teilweise durch EU-Mittel finanzierte Hilfsprogramme zur Verfügung, die eine Behandlung psychischer Erkrankungen umfassen.

Es spricht zwar einiges für eine tendenzielle Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten im Kosovo. Dies gilt insbesondere für den Bereich der medikamentösen Therapie. Das derzeit erreichte Niveau schließt aber die Annahme einer zu einem Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führenden Gefahr für erheblich erkrankte Personen, insbesondere dann, wenn sie mit einer medikamentösen Therapie nicht hinreichend versorgt sind oder Dauermedikamente benötigen und einer Minderheit angehören (Auskunft des UNHCR an das VG des Saarlandes vom 29. Juni 2004 und an das Verwaltungsgericht Koblenz vom 18. Juli 2005; Länderinformation des UNHCR/UNMIK "Verfügbarkeit angemessener medizinischer Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen im Kosovo", vom 31. Januar 2005; vgl. auch Pro Asyl, a.a.O., S. 27 f.) nicht aus. [...]

Die Versorgung mit Medikamenten gegen Depressionen, Angst- und Schlafstörungen sowie auch die wesentlichen weiteren Grunderkrankungen der Klägerin (Diabetes mellitus, insulinpflichtig u.a.), die eingangs dargestellt wurden, ist im Kosovo grundsätzlich möglich, wobei der Gutachter eine Umstellung der Präparate auf solcher gleicher Wirkstoffgruppen nicht ausschließt und die Kammer auch davon ausgeht. Das reicht aber nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht aus. Vielmehr müssen die notwendigen Medikamente auch für den Betroffenen in jeder Hinsicht zugänglich sein; hier sind namentlich auch finanzielle Gründe einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002, - 1 C 102 -; Urteil vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18/05 -, Rdnr. 20, beides juris).

Dass die Abgabe von Medikamenten der sog. Essential Drug List, zu denen auch Antidepressiva einschließlich Anxiolytika und Insulinpräparate gehören, in den Gesundheitszentren kostenlos abgegeben werden, wurde zwar in früheren Lageberichten des Auswärtigen Amtes angeführt (so z.B. noch Lagebericht vom 15. Februar 2007 (Stand: Januar 2007), S. 24).

Jedenfalls ist dies aber seit mindestens September 2007 nicht mehr der Fall; seitdem musste für Medikamente zeitweise eine Eigenbeteiligung von bis zu 2 EUR bezahlt werden (vgl. Lagebericht vom 29. November 2007 (Stand: September 2007), S. 19), während in den jüngsten Lageberichten des Jahres 2009 und 2010 dargestellt wird, dass die Medikamentenversorgung im staatlichen Gesundheitswesen mangels ausreichender finanzieller Mittel z.B. lediglich zu 30 % sichergestellt werden kann, sich also verschlechtert haben dürfte (s. Lageberichte vom 2. Februar 2009, S. 22 und vom 19. Oktober 2009, S. 20 sowie vom 20. Juni 2010).

Ergänzend weisen Hilfsorganisationen darauf hin, dass quasi jede Leistung im Gesundheitswesen, namentlich auch Medikamente im öffentlichen Gesundheitswesen, bezahlt werden müssten. Diese Situation gilt insbesondere für Minderheiten im Kosovo, für die der Zugang zu staatlichen Leistungen ohnehin erschwert ist (vgl. Pro Asyl, Kosovo, Bericht zur Lebenssituation aus Deutschland abgeschobener Roma u.a., Oktober 2009, S. 28; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo - Zur Lage der medizinischen Versorgung - Update, Juni 2007, S. 13; vgl. auch insbesondere aus dem Jahre 2010: Diakonisches Werk: Zur Lage der Roma, Aschkali, Ägypter im Kosovo, auszugsweise in; Asylmagazin 7-8/2010, S. 246 und ai, "Not welcome anywhere - stop the forced return of Roma to Kosovo", 2010, S. 34 ff.).

Selbst wenn der Klägerin seitens der Ausländerbehörde entsprechend der Empfehlung des Auswärtigen Amtes (so noch Lagebericht vom 19. Oktober 2009, a.a.O., S. 21, im neuen Lagebericht 6/2010 keine Anmerkung hierzu) ein Übergangsvorrat an Medikamenten mitgegeben wird, damit die Versorgung für den ersten Zeitraum nach Rückkehr sichergestellt ist, so wird sie nach Überzeugung der Kammer nicht in der Lage sein, die notwendigen Medikamente, insbesondere das Dauermedikament Insulin, auf absehbare Zeit aus eigenen Mittel erwerben zu können.

Die Klägerin selbst ist mindestens seit ihrer ersten Einreise in die Bundesrepublik nicht berufstätig gewesen. Gegenüber dem ärztlichen Gutachter hat sie angegeben, keinerlei schulische oder berufliche Bildung zu besitzen und nie erwerbstätig gewesen zu sein. Aufgrund ihrer Erkrankung wird sie, die jetzt über fünfzig Jahre alt ist, voraussichtlich auch keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können. Hinzu kommt, dass die Arbeitslosigkeit unter den Roma im Kosovo, zu denen die Klägerin und auch ihre Familie gehört, nach wie vor bei 45 % liegt; nach jüngster Auskunft des Auswärtigen Amtes sind nur wenige Roma-Familien in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, eine nachhaltige Besserung ist bis heute nicht eingetreten (vgl. Lagebericht vom 19. Oktober 2009, a.a.O., S. 15 und vom 20. Juni 2010, S. 13).

Daher geht die Kammer davon aus, dass auch der Ehemann der Klägerin und etwaige Kinder, die mit zurückgeführt würden, nicht ohne weiteres in das Erwerbsleben einsteigen bzw. zurückkehren können, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren, zumal die Klägerin und ihr Ehemann hier - soweit ersichtlich - von öffentlichen Mitteln lebt. Das gilt nach aktueller Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde auch für sämtliche noch hier lebende erwachsene Kinder der Klägerin (4 Söhne und eine Tochter).

Die Klägerin und ihre rückkehrpflichtige Familie wird vielmehr auf unabsehbare Zeit kein Erwerbseinkommen erzielen und daher nicht in der Lage sein, eine ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen oder zumindest die erforderlichen Medikamente zu beschaffen.

Unabhängig davon ist auch die vom Gutachter für notwendig befundene persönliche Betreuung der Klägerin keineswegs gewährleistet, sollte sie, wie die Beklagte anführt, mit Ehemann und zwei Söhnen in den Kosovo zurückkehren. Die Klägerin lebt - wie das Gutachten ergibt - schon seit

Januar 2004 nicht mehr bei ihrem Ehemann, weil dieser nicht bereit gewesen sei, sie hinreichend zu pflegen. Die jetzige Betreuung, einschließlich Versorgung mit F. und Medikamenten, erfolgt vielmehr ausschließlich durch die Schwiegertochter ... Dass auch diese gemeinsam mit der Klägerin in den Kosovo zurückkehrt, ist nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Ausländerbehörde zum Aufenthaltsstatus des ältesten Sohnes ..., bei dem die Klägerin betreut wird, mitgeteilt, dieser habe inzwischen ein deutsches Kind und könne ggfs. nach Passvorlage eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG erlangen, wodurch dann auch dessen Ehefrau, die Schwiegertochter der Klägerin, aufenthaltsrechtlich gesichert wäre. Die Klägerin kann die notwendige Pflege durch andere Familienmitglieder, die evtl. zurückgeführt werden, nicht erzwingen. [...]