OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 04.01.2011 - 3 Bf 198/08.Z - asyl.net: M18093
https://www.asyl.net/rsdb/M18093
Leitsatz:

Ergibt sich nach einer Gesetzesänderung das Erfordernis einer Ermessensentscheidung erst im laufenden Klagverfahren (hier: nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Rahmen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG), schließt es § 114 Satz 2 VwGO nicht aus, dass die Behörde ihr Ermessen erstmals im Klagverfahren ausübt (Anschluss an VGH Mannheim, Urt. v. 22.7.2009, 11 S 1622/07, juris).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ermessen, Ermessensentscheidung, ernstliche Zweifel, Ermessensfehler, Passlosigkeit, Passpflicht, Gesetzesänderung, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht,
Normen: VwGO § 114, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 104a,
Auszüge:

[...]

2. Die noch anhängigen Anträge der Kläger zu 4) und zu 6) bis 9) (nachfolgend: Kläger) auf Zulassung der Berufung bleiben ohne Erfolg. Die Berufung ist entgegen ihrer Auffassung weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (a) noch wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (b) zuzulassen.

a) Aus den von den Klägern geltend gemachten Gründen (vgl. die Begründungsschrift vom 25.8.2008) ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind regelmäßig dann begründet, wenn gegen dessen Richtigkeit angesichts der Begründung des Zulassungsantrags nach summarischer Prüfung gewichtige Gesichtspunkte sprechen, wovon etwa auszugehen ist, wenn durch die Begründung des Zulassungsantrags ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 23.6.2000, NVwZ 2000, 1163, 1164; BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 33 S. 7, 10; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 124 Rn. 7). So liegt es hier nicht.

aa) Die Kläger tragen vor, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hätten die Kläger aus § 104a AufenthG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, auch wenn sie nicht über Pässe verfügten. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG stehe dem nicht entgegen. Es bestünden erhebliche Zweifel daran, ob diese Bestimmung so weit zu verstehen sei, wie ihr Wortlaut es zulasse; dem Wortlaut nach ließen sich darunter schon schlicht mangelnde selbstinitiative Bemühungen um die Passbeschaffung fassen; auch enthalte die Bestimmung keine Anforderungen in zeitlicher Hinsicht, so dass ihrem Wortlaut zufolge auch sehr lange zurückliegendes Verhalten darunter falle. Demgegenüber spreche einiges für ein einschränkendes Verständnis der Bestimmung, insbesondere im Hinblick auf die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Richtlinienumsetzungsgesetz, Stand Oktober 2007. Schließlich sei es in tatsächlicher Hinsicht ungeklärt, ob die unterstellte mangelhafte Mitwirkung der Kläger bei der Passbeschaffung kausal für das Unterbleiben aufenthaltsbeendender Maßnahmen gewesen sei. Auch bestünden erhebliche Zweifel, ob den Klägern überhaupt Reisedokumente von den Heimatbehörden ausgestellt würden.

Mit diesen Argumenten vermögen die Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zu begründen. Dies gilt schon deshalb, weil das Verwaltungsgericht seine klageabweisende Entscheidung gar nicht auf § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG gestützt, sondern entscheidend auf die Bestimmung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG abgestellt hat (UA S. 11 ff.).

bb) Die Kläger machen weiter geltend: Soweit das Verwaltungsgericht darauf abgestellt habe, dass die Kläger ihrer Passpflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG bisher nicht nachgekommen seien, weise es selbst zu Recht auf die Vorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hin, nach der u. a. von dieser Passpflicht abgesehen werden könne. Allerdings habe die Beklagte das ihr insoweit eingeräumte Ermessen bisher nicht wahrgenommen, so dass die angegriffenen Verfügungen wegen Ermessensfehlern aufzuheben seien. Die insoweit erforderlichen Ermessenserwägungen könnten auch nicht im Berufungsverfahren nachgeschoben werden. § 114 Satz 2 VwGO schaffe die diesbezüglichen prozessualen Voraussetzungen lediglich für eine Ergänzung defizitärer Ermessenserwägungen im Verwaltungsprozess, nicht aber für die erstmalige Ausübung des Ermessens.

Auch hieraus ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.

Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, dass die Beklagte die in § 5 Abs. 3 AufenthG gesetzten gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten habe, wenn sie darauf abhebe, dass die Kläger es unterlassen hätten, sich um die Beschaffung von Nationalpässen oder Passersatzpapieren zu bemühen, und dass entsprechende Bemühungen ihnen auch zumutbar gewesen seien. Es sei ein legitimes öffentliches Interesse, grundsätzlich nur solchen Ausländern einen rechtmäßigen Aufenthalt zu gewähren, deren Identität und Staatsangehörigkeit durch den Besitz eines Passes bzw. Passersatzpapiers belegt werde (UA S. 12). Damit hat das Verwaltungsgericht angeknüpft an die im laufenden Klagverfahren erfolgte schriftsätzliche Äußerung der Beklagten vom 18. Dezember 2007, die Passpflicht des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gelte auch im Fall des § 104a AufenthG, und die Beklagte sehe aus den im Klagverfahren bereits genannten Gründen nicht von dem Passerfordernis ab. Damit wiederum hat die Beklagte Bezug genommen auf ihren Schriftsatz vom 29. Juli 2005, mit dem sie ausgeführt hat, dass aus ihrer Sicht bei den Klägern nicht von einer unverschuldeten Passlosigkeit die Rede sein könne und dass diese sich bislang nicht hinreichend um die Beschaffung von Passpapieren bemüht hätten. Diese Ansicht hat die Beklagte auch in ihrem Bescheid vom 19. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Oktober 2004 vertreten.

Aus alldem ergibt sich, dass die Beklagte (entgegen der Auffassung der Kläger) ihr Ermessen im Sinne des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Hinblick auf die Frage, ob bezüglich § 104a AufenthG von der Passpflicht abgesehen werden könne, im Rahmen des vorliegenden Klagverfahrens durch ihre o. g. schriftsätzliche Äußerung vom 18. Dezember 2007 ausgeübt hat und somit ein diesbezüglicher Ermessensausfall nicht gegeben ist. Diese Äußerung war zwar knapp gehalten, doch sind die Gründe für ihre Ermessensausübung durch die dort erfolgte Bezugnahme auf ihr bisheriges Vorbringen im Klagverfahren hinreichend eindeutig und nachvollziehbar. Sie war rechtlich nicht dazu verpflichtet, an dieser Stelle ihre bis dahin vorgetragenen Argumente noch einmal "abzuschreiben".

Entgegen der Ansicht der Kläger ist es rechtlich auch nicht zu beanstanden, dass diese Ermessensausübung - zu § 5 Abs. 3 Satz 2 in Bezug auf § 104a AufenthG - "erst" im Rahmen des Klagverfahrens erfolgt ist und nicht bereits zuvor in den angefochtenen Bescheiden. Der Hinweis auf die (für sich genommen zutreffende) Auslegung des § 114 Satz 2 VwGO führt in dem hier vorliegenden Zusammenhang nicht weiter, weil die Beklagte in Bezug auf § 104a AufenthG nicht vor dem laufenden Klagverfahren (gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) Ermessen ausüben konnte. § 104a AufenthG ist nämlich erst am 28. August 2007, also während des Klagverfahrens in Kraft getreten, und diese Bestimmung ist allein wegen ihrer rechtlichen Zuordnung zu Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes ("Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen") unmittelbar zum (weiteren) Prüfungsgegenstand der vorliegenden, zuvor bereits erhobenen und auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem genannten Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes gerichteten Klage geworden, obwohl die Beklagte bis dahin nicht mit der Prüfung eines auf diese Norm gestützten Begehrens befasst gewesen ist und nicht befasst gewesen sein konnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.9.2007, BVerwGE 129, 226). In einer solchen Sondersituation, in der sich erst im laufenden Klagverfahren wegen einer rechtlich zu berücksichtigenden Gesetzesänderung nach einer ursprünglich allein gebundenen Entscheidung zusätzlich das Erfordernis einer Ermessensentscheidung ergibt - so liegt es hier, weil die nach der Auffassung der Beklagten von den Klägern zu vertretende Passlosigkeit bei den anderen Anspruchsgrundlagen (§ 30 Abs. 3 AuslG 1990, § 25 Abs. 5 AufenthG) bereits auf deren Tatbestandsseite zum Anspruchsausschluss führte, und erst im Rahmen der Prüfung des § 104a AufenthG im Hinblick auf die Passlosigkeit das Erfordernis einer gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung entstand - , schließt § 114 Satz 2 VwGO es nicht aus, dass die Behörde erstmals im Laufe des Klagverfahrens ihr Ermessen ausübt (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, BVerwGE 130, 20, 26 f.; VGH Mannheim, Urt. v. 22.7.2009, 11 S 1622/07, juris, Rn. 70, 91 ff. = ESVGH Bd. 60, 125, LS). Dem durch § 114 Satz 2 VwGO an sich bezweckten Verbot des vollständigen Nachholens einer Ermessensentscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren liegt demgegenüber die Annahme zugrunde, dass die Behörde im Rahmen ihres Verwaltungsverfahrens überhaupt Anlass hatte, eine Ermessensentscheidung zu treffen (vgl. etwa Redeker/von Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 114 Rn. 20; Decker in: Posser/Wolf, VwGO, 2008, § 114 Rn. 41).

b) Soweit die Kläger geltend machen, die Berufung sei gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, greift auch dies nicht durch.

Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Berufungsentscheidung erhebliche tatsächliche oder rechtliche Frage aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts der Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO verlangt die Bezeichnung einer konkreten Frage, die für die Berufungsentscheidung erheblich sein wird, und einen Hinweis auf den Grund, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll. Der Zulassungsantrag muss daher erläutern, dass und inwiefern die Berufungsentscheidung zur Klärung einer bisher von der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht beantworteten fallübergreifenden Frage führen kann (vgl. z.B. BVerwG, Beschl. v. 14.5.1997, NVwZ-RR 1997, 621; Beschl. v. 19.8.1997, NJW 1997, 3328).

Nach diesem Maßstab haben die Kläger in ihrer Begründungsschrift vom 25. August 2008 den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht dargelegt. Sie bezeichnen keine konkrete klärungsbedürftige Rechtsfrage, sondern sie bringen ausschließlich ihre eigene (eindeutige und keinen Klärungsbedarf deutlich machende) Rechtsauffassung zum Ausdruck. Dies genügt zwar, um die ebenfalls geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils darzulegen (ohne dass dieser Zulassungsgrund allerdings tatsächlich gegeben wäre, vgl. die vorstehenden Ausführungen), nicht aber für die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache. [...]