VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 01.09.2010 - 8 A 1266/08 As - asyl.net: M18081
https://www.asyl.net/rsdb/M18081
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da der Kläger an Rolando-Epilepsie leidet und die erforderlichen Medikamente in Armenien nicht erhältlich sind.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Armenien, Epilepsie, Rolando-Epilepsie, Medikamente, Sultiam,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

c) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich das Gericht anschließt, ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Die Gefahr im Sinne dieser Vorschrift kann hinsichtlich des Entstehungsgrundes der Gefahr nicht einschränkend ausgelegt werden. Eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben liegt auch vor, wenn sie durch die bereits vorhandene Krankheit konstitutionell mitbedingt ist. Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. Oktober2006 - 1 C 18.05 -, zit. nach juris Rn. 15 m.w.N.).

d) Bei Beachtung dieser Maßstäbe ist der Bescheid des Bundesamtes vom 15. Oktober 2008 rechtswidrig. Nach dem Entlassungsbrief des Universitätsklinikums ... vom 6. August 2008 leidet der Kläger an einer Rolando-Epilepsie. Er war nach einem Grand mal-Anfall vom 5. bis 12. August 2008 stationär behandelt worden. Es bestehe eine "fokale Anfallsaktivität, am ehesten aus dem Formenkreis der Rolando-Epilepsie", die diagnostisch abgeklärt werden müsse.

aa) Die vom Gericht eingeholten Gutachten haben diese Diagnose bestätigt. Aus den Gutachten (vgl. insbesondere das amtsärztliche Gutachten vom 16. Juni 2009 zu 6 und das fachärztliche Gutachten von Prof. ... vom 10. Mai 2010 zu 1) folgt weiter, dass ein Abbruch der - nur aus einer entsprechenden medikamentösen Behandlung bestehenden - erforderlichen Behandlung mit oder ohne Fortsetzung der medikamentösen Therapie zu nicht absehbaren Konsequenzen führen könnte. Bei Fortsetzung der Einnahme der Medikamente ohne ärztliche Überwachung könnte es zu Überdosierungen kommen, da mögliche Nebenwirkungen nicht erkannt würden. Eine Indikation zur eventuellen Therapiebeendigung (eine Rolando-Epilepsie heilt regelmäßig bis zur Pubertät bzw. dem 15. Lebensjahr aus) könnte übersehen werden. Bei Absetzen der Medikamente könnte es zu Entzugskrampfanfällen kommen, die intensiver als die rolando-typischen Anfälle sein und mit Bewusstseinsverlust einhergehen könnten. Es könnte zu lebensbedrohlichen Situationen kommen. Es würde zudem die Gefahr der Verschlechterung der Erkrankung mit Abbau der geistigen Fähigkeiten bis zur geistigen Behinderung bestehen.

bb) Nach Überzeugung des Gerichts kann der Kläger in Armenien insbesondere deshalb nicht adäquat behandelt werden, weil das Medikament Sultiam (Wirkstoff: Ospolot), das er derzeit einnehmen muss und in Deutschland wegen seiner geringen Nebenwirkungen als erste Wahl gilt, in Armenien nicht erhältlich ist. Andere Medikamente sind nach Aussagen insbesondere im fachärztlichen Gutachten von Prof. ... vom 10. Mai 2010 entweder in Armenien nicht erhältlich (Valproinsäure, Levetiracetam, vgl. auch Gutachten der Vertrauensärztin der Deutschen Botschaft in Eriwan), bedürfen bei und nach einer Umstellung wegen der Gefahr einer zusätzlichen Induktion bioelektrischer Staten unbedingt einer Überwachung (Carbamazepin, Lamotrigin, vgl. auch amtsärztliche Stellungnahme vom 16. Februar 2010) oder sind den anderen Medikamenten hinsichtlich der Nebenwirkungen auf die geistige Entwicklung des Patienten unterlegen (Topiramat). Das Gutachten der Vertrauensärztin der Deutschen Botschaft enthält keine Aussage, dass eine erforderliche Überwachung des Klägers in Armenien nach einer Umstellung auf andere Medikamente gewährleistet wäre. [...]