Zur Verwertbarkeit klinischer Gutachten. Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen PTBS, Suizidgefahr.
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In der Person der Klägerin liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, denn es ist davon auszugehen, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Sachverständige ... - Psychotherapie und Ergotherapeut - in seinem psychologischen Fachgutachten vom 23. September 2008 und seiner ergänzenden psychologischen Stellungnahme vom 16. April 2009, welche sich auf eine mehrstündige Exploration der Klägerin mit ausführlicher Anamnese und detaillierte Beobachtung des Verhaltens der Klägerin unter Anwendung klinisch-diagnostischer Instrumente stützt. Aufgrund der plausiblen und nachvollziehbaren Feststellungen des Gutachters ist das Gericht von der Richtigkeit seiner Ausführungen überzeugt. Der Gutachter stützt seinen Befund auf das Verhalten der Klägerin, ihre psychischen Symptome, die körperlichen Anzeichen, die sie geschildert hat, sowie die Testergebnisse (PDS-Test, Auswertung der Hopkins-Symptomen-Checkliste 25, DES-Test). Diese Kriterien sprächen eindeutig dafür, dass bei der Klägerin eine psychische Erkrankung vorliege. Die Befunde aus der Exploration der Symptomatik stimmten mit den Testergebnissen überein, wobei bei der Klägerin die folgenden psychischen Symptome feststellbar und stark ausgeprägt seien: Hoffnungslosigkeit, Schreckhaftigkeit, Schlafschwierigkeiten, Vermeidung und Intrusionen. Hieraus folge die Diagnose schwere chronische posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3), Zustand nach Vergewaltigung (ICD-10: Y07) und Suizidgefahre (ICD-10: X 62). Bei [der] Klägerin müsse eine gewisse Tendenz zur Suizidalität in die Betrachtungen mit einbezogen werden. Obgleich es zurzeit kein Verdacht auf eine akute Suizidalität bestehe, seien Suizidversuche nach veränderter Situation nicht auszuschließen.
Soweit die Beklagte die Verwertbarkeit des Gutachtens unter Hinweis auf die fehlende Überprüfung der Angaben der Klägerin zum erlittenen Trauma in Abrede stellt, ist anzumerken, dass klinische Gutachten zu Fragen nach bestehenden Traumafolgen Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie analysieren. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. April 2008 - 1 A 10433/07.OVG -). Zuzugeben ist der Beklagten allerdings, dass ohne das Vorliegen eines traumatischen Ereignisses die Diagnose "posttraumatische Belastungsstörung" nicht gestellt werden kann. Das behauptete traumatisierende Ereignis hat aber zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden. Aufgrund der Anhörung der Klägerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Klagebegründung, der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts und der Anamnese, die dem genannten Gutachten zugrundelagen, ist die Kammer davon überzeugt, dass die Klägerin in Armenien tatsächlich vergewaltigt wurde. Sie hat - mit Ausnahme der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - durchgehend geschildert, in Armenien von mehreren Männern vergewaltigt worden zu sein. Auch zu den Umständen der Vergewaltigungen hat sie im Wesentlichen übereinstimmende Angaben gemacht und damit den Kernsachverhalt schlüssig geschildert. Auch hat sie im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits von Gewaltanwendungen berichtet. Bei traumatisierten Personen sind Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel. Darüber hinaus verschweigen sie oft jene Ereignisse, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden. Dies gilt in besonderer Weise bei sexuellen Übergriffen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O.).
Auch dass die Klägerin widersprüchliche Angaben zu ihren Personalien und ihrer Lebensgeschichte gemacht hat, spricht nicht gegen das Erleben eines traumatisierenden Ereignisses in Armenien. Die Klägerin hat hierfür nämlich in der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer eine nachvollziehbare und plausible Begründung gegeben. Zum einen hätten ihr und ihrem Mann in der Aufnahmeeinrichtung andere Asylbewerber geraten, falsche Personalien anzugeben, damit sie nicht so schnell abgeschoben würden. Auch habe sie Angst gehabt, dass ihre Verwandten in Armenien Schwierigkeiten bekämen. Die Leute, die ihr Probleme bereitet hätten, könnten wegen des von ihrem Mann unterschlagenen Geldes an ihre Familie herantreten und diese gefährden, wenn sie ihren Aufenthaltsort erführen. Ihr Mann habe das Geld Armenien unterschlagen, weil sein gesundheitlicher Zustand dort bereits sehr schlecht gewesen sei und er damit eine medizinische Behandlung habe finanzieren wollen. Davon hätten sie auch zunächst in Deutschland nichts gesagt, weil sich ihr Mann geschämt habe.
Nach alledem kommt das Gutachten vom 23. September 2008 in Verbindung mit der ergänzenden Stellungnahme vom 16. April 2009 nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass es bei einer Rückkehr nach Armenien zu einer massiven Konfrontation der Klägerin mit den Erinnerungen an die Gewalterfahrungen komme. Hierbei sei zu beachten, dass eine Reaktualisierung unabhängig von der objektiven individuellen Sicherheitslage erfolge. Da sich die Klägerin derzeit in einer sehr instabilen psychischen Verfassung befinde, sei davon auszugehen, dass eine Rückkehr den Traumatisierungsprozess weiter verstärke und damit zu einer Symptomzuspitzung führen werde. Bei der Klägerin sei das Symptom der Vermeidung an traumatische Erlebnisinhalte besonders stark ausgeprägt. Hierbei handele es sich um einen unwillkürlichen Schutzmechanismus, der weitere Dekompensation vermeiden solle und die Abwehr existentieller Angst unterstütze. Eine zwangsweise Konfrontation mit Inhalten und Umgebungen, die die Klägerin an das Trauma erinnerten, hebele diesen innerpsychischen Abwehrmechanismus aus. Die Folgen könnten Suizidalität oder Paranoia sein. Da bei der Klägerin bereits eine latente Suizidalität bestehe, sei dieser Aspekt besonders kritisch. Diese von den Sachverständigen diagnostizierte konkrete Gefahr einer Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Vorliegend steht nämlich nicht die Angst vor einer Abschiebung als solche im Vordergrund, sondern eine Gefährdung der Klägerin durch ein Aktualisieren der Konflikte im Herkunftsstaat. Die konkrete Gefahr im Falle einer Abschiebung nach Armenien ist auch durch eine Behandlung der Klägerin im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern. Es ist nämlich allgemein anerkannt, dass eine erfolgreiche Therapie einer posttraumatischen Belastungsstörung und der damit zusammenhängenden Suizidalität nur in einer beruhigten und auf Sicherheit gründenden Lebenssituation, das heißt ohne die Gefahr des Wiederaufkeimens der Befürchtungen, möglich ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O.). Darauf verweist auch der Gutachter. [...]