OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 23.12.2010 - 4 Bs 243/10 - asyl.net: M18070
https://www.asyl.net/rsdb/M18070
Leitsatz:

Es fehlt eine gesetzliche Befugnis, mit einem Verwaltungsakt zur ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung aufzufordern. Eine solche Befugnis ergibt sich nicht aus dem allein in Betracht kommenden § 62 SGB I.

Schlagwörter: Altersfeststellung, unbegleitete Minderjährige, vorläufiger Rechtsschutz, Sachverständigengutachten, Prozessfähigkeit, Inobhutnahme, Sozialleistungen, Verwaltungsakt, Mitwirkungspflicht, Sofortvollzug, Handwurzeluntersuchung, Realakt, Rechtsgrundlage, Rechtsweggarantie
Normen: VwGO § 62 Abs. 4, ZPO § 56 Abs. 1, ZPO § 55, SGB I § 36 Abs. 1, VwGO § 62 Abs. 1 Nr. 2, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, SGB I § 11, SGB VIII § 2 Abs. 1, SGB VIII § 2 Abs. 2, SGB VIII § 42 Abs. 2 S. 3, SGB I § 11 S. 2, SGB I § 62, VwGO § 67 Abs. 4 S. 3, VwGO § 80 Abs. 5, SGB III § 309 Abs. 1 S. 1, SGB III § 336a S. 1 Nr. 4, SGB III § 309, SGB I § 31, VwGO § 44a S. 1, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1, SGB X § 31, SGB I § 66 Abs. 3, GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

[...]

a) Der Antragsteller ist prozessfähig. Die Prozessfähigkeit ist vom Gericht in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen, § 62 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 56 Abs. 1 ZPO. Soweit es die Feststellung der Prozessfähigkeit ausländischer Staatsangehöriger in Verfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung betrifft, gilt - soweit nicht spezialgesetzliche Regelungen etwa im Ausländer- und Asylrecht eingreifen (vgl. § 60 Abs. 1 AufenthG und § 12 Abs. 1 AsylVfG) - dabei Folgendes:

Nach ungeschriebenem deutschen Verfahrenskollisionsrecht beurteilt sich die Prozessfähigkeit eines Ausländers grundsätzlich nach dem Prozessrecht seines Heimatstaates. Er ist für den Inlandsprozess prozessfähig, wenn ihm nach dem Heimatrecht (lex patriae) in einem entsprechenden Verfahren vor den Heimatgerichten diese Eigenschaft zukäme (hier in: Schoch/Schmidt-Aßnmann/Pietzner, VwGO, 20. Ergänzungslieferung 2010, § 62 Rn. 15). Darüber hinaus ist ein Ausländer nach § 62 Abs. 4 VwGO, wonach u.a. § 55 ZPO entsprechend anwendbar ist, für den Inlandsprozess auch dann prozessfähig, wenn zwar das Heimatrecht ihm diesen Status verweigert, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht (lex fori) aber zubilligt (vgl. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 55). Der nach seinem Heimatrecht Prozessunfähige bedarf also für einen Rechtsstreit im Inland keines gesetzlichen Vertreters, wenn ein Deutscher in derselben Lage prozessfähig wäre (hier in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner a.a.O.).

Gemessen an diesen Maßstäben ist von der Prozessfähigkeit des Antragstellers, soweit es den Gegenstand des Verfahrens betrifft, auszugehen. Dabei kann der Senat offen lassen, ob der Antragsteller tatsächlich aus der Russischen Föderation stammt und er nach deren Recht als prozessfähig anzusehen ist. Prozessfähigkeit ist jedenfalls nach dem ebenfalls anwendbaren deutschen Recht gegeben. Der Antragsteller ist nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I teilweise handlungsfähig und folglich insoweit prozessfähig nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO (vgl. zu § 71 Abs. 2 SGG Seewald, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht. 66. Ergänzungslieferung, 2010, SGB I, § 36 Rn. 3).

Die Voraussetzungen von § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I liegen vor. Danach kann Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen, wer das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hat. [...]

Der Antragsgegnerin fehlt nach dem genannten Grundsatz die rechtliche Befugnis, die Aufforderung nach Ziffer 1 des Bescheides vom 19. November 2010 in der Form eines Verwaltungsakts an den Antragsteller zu richten. Eine solche Befugnis ergibt sich nicht aus dem von der Antragsgegnerin angeführten - und allein in Betracht kommenden - § 62 SGB I. Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, soll sich nach § 62 SGB I auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. Diese Bestimmung berechtigt nicht zum Erlass eines Verwaltungsaktes im Sinne von § 31 SGB X. Ein Verwaltungsakt kommt als Handlungsform schon deshalb nicht in Betracht, weil die in Rede stehende Verhaltenserwartung - nur - als Last des leistungsberechtigten Bürgers, nicht jedoch als eine erzwingbare Rechtspflicht ausgeprägt ist. Daher ist das Verlangen gesetzlich als "Realakt" konzipiert. Er dient erst der Vorbereitung einer verbindlichen behördlichen Entscheidung über die Leistung (Hase in: BeckOK, SGB I, Stand: 1.9.2010, § 61 Rn. 5 und § 61 Rn. 3 m.w.N.; zweifelnd an einer Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsakts hinsichtlich § 61 SGB I auch BSG, Urt. v. 20.3.1989, 7 RAr 21/79, juris Rn. 26). Dies folgt aus einer Auslegung der Vorschrift. Im Einzelnen:

Aus dem Wortlaut der Regelung und ihrer Entstehungsgeschichte ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sie die Behörde zum Erlass eines Verwaltungsakts ermächtigen. Gerichtet ist die Norm vorrangig nicht an die Verwaltung, sondern an denjenigen, der Sozialleistungen beantragt oder erhält. § 62 SGB I ist dabei bewusst als Sollvorschrift ausgestattet worden. Die Formulierung "soll" macht deutlich, dass vom Bürger zwar erwartet, aber nicht erzwungen werden kann, sich ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen zu unterziehen (vgl. BT-Drucks 7/868, Begründung zu Art. 1 § 61, S. 33 die auf § 62 SGB I verweist: BSG, Urt. v. 20.3.1980, 7 RAr 21/79; juris Rn. 26).

Die Annahme, § 62 SGB I berechtige zum Erlass eines Mitwirkungspflichten konkretisierenden Verwaltungsakts, wäre überdies mit der Systematik des Gesetzes nicht vereinbar. Der Gesetzgeber verfolgt mit den § 65, 66, und 67 SGB I ein anderes Handlungsprogramm. Er hat einen eigenständigen Sanktionsmechanismus bei fehlender oder unzureichender Mitwirkung geschaffen. Dieser kennt keine zwangsweise durchsetzbare Mitwirkungspflicht, sondern knüpft mögliche Rechtsfolgen daran, ob eine gebotene Mitwirkung unterblieben ist (vgl. BSG, Urt. v. 22.2.1995, BSGE 76, 18, juris Rn. 29).

Soweit die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht ihre gegenteilige Rechtsansicht auf die Kommentierung von Hauck/Noftz (SGB I, K § 62, Rn. 12, wohl in der Fassung der 16. Lfg. II/97) stützen, vermag dies nicht zu überzeugen. Die Rechtsauffassung in der von der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht herangezogenen Kommentierung ist mit der Neuauflage dahin revidiert worden, das Verlangen der Behörde sei kein Verwaltungsakt, da selbst der Hinweis nach § 66 Abs. 3 SGB I keine Klarheit darüber verschaffe, ob die Rechtsfolgen des § 66 SGB I tatsächlich einträten (Hauck/Noftz; SGB I, 33. Lfg. XII/10, K § 62, Rn. 7). Den Regelungscharakter der behördlichen Anordnung mit der Einschätzung zu bejahen, es werde eine Pflicht von erheblichem Gewicht begründet, deren Verletzung die Rechtsnachteile des § 66 SGB I nach sich ziehen könne (so noch Hauck/Noftz, SGB I, 16. Lfg. II/9, K § 62, Rn. 12). dürfte auf eine unzutreffende Prämisse hindeuten. Einen Rechtssatz, bei erheblichem Gewicht einer durch behördliche Anordnung begründeten Rechtspflicht und den mit einer Verletzung dieser Pflicht verbundenen Rechtsnachteilen erfolge ein Handeln des Hoheitsträgers durch Verwaltungsakt, gibt es nicht. Beispielhaft kann hier auf die rechtsähnliche Aufforderung gem. § 11 ff. FeV zur Vorlage eines Gutachtens einer medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle (sog. MPU-Anordnung, OVG Hamburg, Beschl. v. 22.5.2002, ZfSch 2003, 262, juris Rn. 2: zum alten Recht - § 15 b Abs. 2 StVZO a.F. BVerwG, Beschl. v. 17.5.1994, 11 B 15./93, DAR 1994, 372, juris Rn. 4) verwiesen werden. Gleiches gilt die Aufforderung zur Vorlage eines amtsärztlichen Attests im Prüfungsverfahren (BVerwG, Beschl. v. 27.8.1992, NVwZ-RR 1993, 252, juris Rn. 3) und zur "polizeiärztlichen Untersuchung" zur Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung im Asylverfahren (VG Berlin, Gerichtsbescheid v. 3.4.2000, 27 F 83/99, NVwZ 2001, 232). In all diesen Fällen liegt ebenfalls kein Verwaltungsakt vor.

Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nicht ausnahmsweise ein Handeln durch Verwaltungsakt. Es würde mit dieser Handlungsform vielmehr den Beteiligten ein weiteres Verwaltungsverfahren auferlegt, dessen Gegenstand der Sache nach eine bloße behördliche Verfahrenshandlung im Sinne von § 44a Satz 1 VwGO darstellte und die eigentliche Regelung des Lebenssachverhalts durch eine Entscheidung der Behörde nach § 66 SGB I ohne rechtfertigenden Grund verzögere. Denn es ist dem Bürger zumutbar, den Erlass einer nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I in das behördliche Ermessen gestellten Regelung (durch Verwaltungsakt) abzuwarten und gegebenenfalls gegen sie Rechtsschutz zu suchen. Das Gesetz sieht bei Nichterfüllung der Mitwirkungspflicht keinen zwangsläufigen und vollständigen Verlust des Leistungsrechts vor. Die unterlassene Mitwirkung ist nur relevant, wenn die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert und die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Erst dann ist der Behörde ein Ermessen eröffnet, ob und ggf. in welchem Umfang sie ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagt oder entzieht. Der Bürger hat eine Sanktion zudem nur im Falle eines ordnungsgemäßen Hinweises nach § 66 Abs. 3 SGB I zu gegenwärtigen, kann sich also stets auf eine mögliche staatliche Reaktion einstellen. Sollte sich seine Weigerung als unberechtigt erweisen, kann er überdies durch Nachholung der Handlung nicht nur eine Aufhebung des Entziehungsbescheides für die Zukunft, sondern auch eine Ermessensentscheidung über die nachträgliche Erbringung der entzogenen Sozialleistungen erwirken (BSG a.a.O., Rn. 38). [...]