VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A - asyl.net: M18057
https://www.asyl.net/rsdb/M18057
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Überstellung nach der Dublin II-VO nach Italien. Es ist in Betracht zu ziehen, dass Italien die in völkerrechtlichen Verträgen wie der EMRK und der GFK eingegangenen Verpflichtungen nicht mehr einhält und Ausländern der Schutz dadurch verweigert, dass es sich ihrer ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will oder nicht (mehr) willens oder in der Lage ist, die vereinbarten europaweiten Mindeststandards zu gewährleisten.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Konzept der normativen Vergewisserung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung des durch eidesstattliche Versicherung des Antragstellers, die mit Antragsschriftsatz vorn 23. Dezember 2010 dem Gericht vorgelegt wurde, bekräftigten Vorbringens des Antragstellers einerseits und die damit korrespondierenden allgemein bekannten Informationen zu der tatsächlichen Ausgestaltung des Asyl- und Flüchtlingsschutzes in Italien andererseits, insbesondere bezogen auf die humanitäre, vor allem wirtschaftliche, gesundheitliche und Wohnungssituation der in Italien schutzsuchenden Driltstaatsangehörigen bestehen bei dem Gericht berechtigte Zweifel daran, ob die Republik Italien noch die hinreichende Gewähr dafür bietet, dass Ausländer wie etwa der Antragsteller, die dort einen Asyl- oder Schutzantrag gestellt haben, nicht von individueller Gefährdung bedroht sind. Hier ist nach allem in Betracht zu ziehen, dass sich Italien seiner in völkerrechtlichen Verträgen wie der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 685) oder des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 26. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559) eingegangenen und bisher generell auch eingehaltenen Verpflichtungen gelöst hat und einem bestimmten Ausländer den Schutz dadurch verweigert, dass sich Italien seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will oder nicht (mehr) willens oder in der Lage ist, ihm gegenüber die vereinbarten europaweiten Mindeststandards zu gewährleisten. Im Hinblick darauf kann dem Antragsteller deshalb der begehrte vorläufige Rechtsschutz nicht vornherein unter Hinweis auf die Rechtsvorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG verwehrt werden, ohne dadurch seine Grund- und Menschenrechte zu verletzen.

Der zureichende Grund für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung liegt darin, dass die Antragsgegnerin ihren Bescheid vorn 25. November 2010, 544408-273, mit dem sie den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig bewertet und seine Abschiebung nach Italien anordnet, bereits der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde des Landkreises Bergstraße zur Zustellung an den Antragsteller nach § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG - "soweit möglich erst am Überstellungstag" - zugeleitet hat.

Der Antragsteller kann sich ferner auf den erforderlichen Anordnungsanspruch stützen. Das substantiierte und glaubhaft gemachte Vorbringen des Antragstellers, insbesondere seine Schilderungen über die von ihm erlebten Zustände im italienischen Asyl-/Schutzverfahren, die im allgemeinen von den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln gestützt werden, lassen starke Zweifel daran aufkommen, dass sein Asyl- oder Schutzbegehren in Italien nach dem genannten (s.o. Seite 3) normativen Vergewisserungskonzept in Übereinstimmung mit den einschlägigen europarechtlichen Konventionen bearbeitet und entschieden wird. Die Antragsgegnerin hat den Vortrag des Antragstellers auch nicht bestritten. Zwar mag es sein, dass Italien der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beigetreten ist und im Übrigen auch alle EU-Richtlinien zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen hat. Dennoch sprechen gewichtige Aspekte und Gegebenheiten dafür, dass - jedenfalls der Antragsteller - nicht mehr von dem normativen Vergewisserungskonzept erfasst wird. Nicht nur das von ihm detailreich geschilderte und glaubhaft gemachte eigene Schicksal als Flüchtling in Italien, sondern auch die zahlreichen Beschreibungen der dortigen Zustände, wie sie den in der Antragsschrift bezeichneten Publikationen und allgemein bekannten Mediendarstellungen, nicht zuletzt aber dem von der Antragsgegnerin bislang nicht widersprochenen Reisebericht des Rechtsanwaltes Bender, Frankfurt am Main, vom 26. Oktober 2010 zu entnehmen sind, belegen dies zu der für das Eilverfahren gebotenen Erkenntnis des Gerichts ausreichend und deutlich.

Im Hinblick darauf, dass hier insgesamt tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen aufgeworfen sind, die in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend beantwortet werden können, muss die umfassende Prüfung, ob dem Antragsteller letztlich Schutz vor der angeordneten Abschiebung nach Italien zu gewähren ist, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. [...]