VG Köln

Merkliste
Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 11.01.2011 - 16 L 1913/10.A - asyl.net: M18052
https://www.asyl.net/rsdb/M18052
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Überstellung nach der Dublin II-VO nach Italien. Es kann bereits nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass überhaupt ein Asylantrag in Italien gestellt wurde, dies folgt nicht zwingend aus dem vorliegenden "Eurodac-Treffer". Im Übrigen liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Italien nicht an die bei Einfügung des § 27a AsylVfG vorausgesetzten unions- und völkerrechtlichen Standards heranreichen. Das Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung der 20. Kammer des VG Köln im Beschluss vom 10.1.2011 - 20 L 1920/10.A - (asyl.net, M18053).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Italien, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Konzept der normativen Vergewisserung, Eurodac, Asylantrag, Selbsteintritt
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch - ganz überwiegend - begründet.

Dies folgt bereits daraus, dass nach Aktenlage nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden kann, dass die Antragsteller in Italien überhaupt einen Asylantrag gestellt haben. Die Antragsteller selbst haben anlässlich ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 04.10.2010 ausdrücklich verneint, in Italien bereits einen Asylantrag gestellt zu haben und dies in der gerichtlichen Antragsschrift bestätigt. Hierauf ist die Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme vom 04.01.2011 nicht eingegangen. Insbesondere hat sie auch keinerlei aussagekräftige Unterlagen vorgelegt, aus denen sich ergeben könnte, dass in Italien bereits ein solcher Asylantrag vorliegt. Aus dem den vorgelegten Verwaltungsvorgängen zu entnehmenden Umstand ("EURODAC-Treffer"), dass die Antragsteller in Italien im Ort ... aufgegriffen worden sind, folgt nicht zwingend, dass es sich bei dem nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag bereits um einen zweiten - und damit unwirksamen -Asylantrag handelt (vgl. hierzu VG Frankfurt, Beschluss vom 02.08.2010 - 8 L 1827/10.F.A -, juris.

Im Übrigen liegen auch ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Italien nicht an die zu fordernden und bei Einfügung des 27a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw. völkerrechtlichen Standards heranreichen.

Das Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung der 20. Kammer des Verwaltungsgerichts Köln im Beschluss vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A -. Danach ist insbesondere zu klären, ob die Antragsteller ihre Asylgründe in Italien noch uneingeschränkt vorbringen können oder ob ihnen dies dort nicht oder nur noch unter erheblichen, mit dem unions- bzw. völkerrechtlichen Standard unvereinbaren Einschränkungen möglich ist (vgl. ECRE-Studie zur Dublin-II-Praxis, S. 3; Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../ Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand: 22. Juni 2010).

Zudem sind die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge in Italien völlig überlastet, so dass die große Mehrheit der Asylsuchenden ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu Nahrung leben muss. Auch die Gesundheitsversorgung ist nicht ausreichend sicher gestellt, da diese teilweise nur mit einer festen Wohnadresse beansprucht werden kann (vgl. Bethke/Bender, Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010, vom 29.11.2010; Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../ Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand: 22. Juni 2010); Medecins Sans Frontieres, Over the wall - a tour of Italy's migrant centres, Januar 2010).

Die vorgenannten Defizite vor allem im Bereich der Aufnahmebedingungen wiegen im Falle der Antragsteller besonders schwer, da von einer Überstellung nach Italien auch die erst 1998 und 2005 geborenen, minderjährigen Antragsteller zu 3) und 4) betroffen wären.

Die bekannt gewordenen Informationen über die Situation von Asylbewerbern in Italien haben den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in jüngster Zeit wiederholt zu vorläufigen Entscheidungen nach Art. 39 der Verfahrensordnung (Rules of Court) mit dem Ziel der Verhinderung von Überstellungen nach Italien veranlasst (vgl. EGMR, Statements of Facts u.a. vom 14.09.2010 - Nr. 2303/10 -, vom 30.08.2010 - Nr. 37159/09 -, vom 04.06.2010 - Nr. 30815109 - und 16.03.2010 - Nr. 44517109 -) und rechtfertigen eine verfassungskonforme Auslegung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG (vgl. für Rückführungen nach Italien: VG Weimar, Beschluss vom 15.12.2010 - 5 E 20190/10 We - www.asyl.net; VG Darmstadt, Beschluss vom 09.11.2010 - 4 L 1455/10.DA.A(1) - www.asyl.net; VG Minden, Beschluss vom 22.06.2010 - 12 L 284/10.A -, juris).

Die tatsächliche Situation Asylsuchender in Italien begründet auch den Anordnungsanspruch der Antragsteller. Die Antragsteller haben einen Anspruch, dass die Antragsgegnerin von der ihr in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eingeräumten Möglichkeit des Selbsteintritts ermessensfehlerfrei Gebrauch macht. Als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht bildet die Dublin II-VO eine geeignete Grundlage für die Begründung subjektiver Rechte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO für Ausländer jedenfalls dann ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts begründet, wenn die Entscheidung - wie hier im Hinblick auf den unzureichenden Zugang zum Asylverfahren und die mangelhafte Sicherstellung des Lebensunterhaltes im nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat - durch nationales Verfassungsrecht, namentlich durch die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflichten, geprägt wird. [...]