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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Bozkurt, C-303/08 - asyl.net: M18048
https://www.asyl.net/rsdb/M18048
Leitsatz:

Die nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erworbenen Rechte (Aufenthaltsrecht für Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer) bestehen eigenständig fort, auch wenn es nach fünfjähriger familiärer Lebensgemeinschaft zu einer Scheidung kommt. Die Berufung auf ein solches eigenständiges Aufenthaltsrecht ist auch dann nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der Betroffene nach Erwerb der Rechtsstellung eine schwere Straftat gegen seine Ehefrau begeht. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern sein persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Vorabentscheidungsverfahren, türkische Staatsangehörige, Türkischer Arbeitnehmer, Familienangehörige, Scheidung, ordnungsgemäßer Wohnsitz, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Scheinehe, Rechtsmissbrauch, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Straftat, Ausweisung, Generalpräventiver Zweck, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Verhältnismäßigkeit,
Normen: ARB 1/80 Art. 7 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

24 Wie aus den Akten hervorgeht, erfüllte der betreffende türkische Staatsangehörige vor der Scheidung seiner Ehe sämtliche Voraussetzungen für den rechtmäßigen Genuss der Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80.

25 Die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage ist daher so zu verstehen, dass dieses im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.

26 Zur Beantwortung dieser Frage ist als Erstes daran zu erinnern, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, der Erwerb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Rechte von zwei kumulativen Voraussetzungen abhängt: Zum einen muss die betreffende Person Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein, und zum anderen muss sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass sowohl Herr Bozkurt als auch seine Ehegattin diese Voraussetzungen erfüllten.

27 Als Zweites werden die Rechte, die dem türkischen Staatsangehörigen, der die in der vorstehenden Randnummer angeführten Voraussetzungen erfüllt, durch die genannte Vorschrift verliehen werden, nach dem System, das die Vertragsparteien in dieser Vorschrift geschaffen haben, schrittweise ausgeweitet, je nachdem, wie lange der Betreffende mit dem türkischen Arbeitnehmer, der im Aufnahmemitgliedstaat bereits seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat, tatsächlich zusammen gewohnt hat.

28 So erhält der betreffende türkische Staatsangehörige nach drei Jahren eines solchen ordnungsgemäßen Wohnsitzes das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben; dieses Recht steht lediglich unter dem Vorbehalt des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzuräumenden Vorrangs (Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80).

29 Nach zwei weiteren Jahren des ordnungsgemäßen Wohnsitzes im Aufnahmemitgliedstaat hat dieser türkische Staatsangehörige freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80). Im Fall von Herr Bozkurt ist dieses Kriterium unstreitig erfüllt.

30 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass anders als bei Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses, in dem auf die Dauer der ordnungsgemäßen Beschäftigung abgestellt wird, bei Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 somit der ordnungsgemäße Wohnsitz bei dem türkischen Wanderarbeitnehmer das maßgebliche Kriterium ist. Nach einer gewissen Zeit eines solchen Wohnsitzes erhält der Betroffene das Recht auf Ausübung einer Tätigkeit, ohne dass Art. 7 Abs. 1 insoweit für den Erwerb eines durch den Beschluss Nr. 1/80 gewährleisteten Rechts eine Auflage oder eine Bedingung vorsieht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 7. Juli 2005, Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Randnrn. 29 und 31, vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Randnr. 56, und vom 25. September 2008, Er, C-453/07, Slg. 2008, I-7299, Randnrn. 31 bis 34). Die Beschäftigungssituation eines türkischen Staatsangehörigen wie des im Ausgangsverfahren betroffenen ist daher völlig irrelevant.

31 Als Drittes ist hervorzuheben, dass, wie der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden hat, zum einen der genannte Art. 7 Abs. 1 unmittelbare Wirkung hat und zum anderen Wohnzeiten wie die darin vorgesehenen die Anerkennung eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzen, da ihnen sonst jede Wirkung genommen würde (vgl. u.a. Urteile Er, Randnrn. 25 und 26, sowie vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, Slg. 2008, I-10323, Randnrn. 20 und 21).

32 Als Viertes ist hervorzuheben, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient.

33 Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen (vgl. u. a. Urteile vom 17. April 1997, Kadiman, C-351/95, Slg. 1997, I-2133, Randnrn. 35 und 36, vom 22. Juni 2000, Eyüp, C-65/98, Slg. 2000, I-4747, Randnr. 26, sowie vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Randnr. 25).

34 Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, um dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufzubauen (vgl. u.a. Urteile Eyüp, Randnr. 26, Cetinkaya, Randnr. 25, Aydinli, Randnr. 23, und Derin, Randnrn. 50 und 71).

35 Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass der Familienangehörige zwar grundsätzlich vorbehaltlich berechtigter Gründe tatsächlich mit dem Wanderarbeitnehmer zusammenwohnen muss, solange er nicht selbst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt hat – d. h. bis zum Ablauf des Dreijahreszeitraums –, dass dies aber nicht mehr der Fall ist, sobald der Betroffene dieses Recht nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworben hat, und erst recht nicht, wenn er nach fünf Jahren ein uneingeschränktes Recht auf Beschäftigung innehat (vgl. Urteil Derin, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36 Sind nämlich die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, verleiht diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und entsprechend ein Recht, sich dort weiter aufzuhalten.

37 Diese Rechte gehen zwar auf die Stellung zurück, die der türkische Arbeitnehmer, von dem dessen Familienangehöriger ein Aufenthaltsrecht ableitete, im Aufnahmemitgliedstaat in der Vergangenheit innehatte.

38 Der Familienangehörige eines solchen Arbeitnehmers ist jedoch, wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften in ihren schriftlichen Erklärungen zu Recht geltend gemacht hat, sobald er selbst ein individuelles Recht aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat, in ausreichendem Maß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert, um seine Stellung als von der Stellung seines Familienangehörigen, der ihm den Zugang zu diesem Staat ermöglicht hatte, trennbar und damit als dieser gegenüber selbständig ansehen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteile Derin, Randnrn. 50 und 71, sowie Altun, Randnrn. 59 und 63).

39 Diese Auslegung ergibt sich auch aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80 insgesamt betrachtet, zu dem wiederholt entschieden wurde, dass er die Situation der türkischen Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat verbessern soll, indem die allmähliche Integration der türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen einer der Bestimmungen dieses Beschlusses erfüllen und damit in den Genuss der darin vorgesehenen Rechte kommen, im Aufnahmemitgliedstaat gefördert wird (vgl. u.a. Urteile vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Randnrn. 43 und 44, Derin, Randnr. 53, sowie Altun, Randnrn. 28 und 29).

40 Unter diesem Blickwinkel hat der Gerichtshof entschieden, dass Rechte wie die von Herr Bozkurt nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenen vom Fortbestehen der Voraussetzungen für ihre Entstehung unabhängig sind (vgl. Urteile Ergat, Randnr. 40, Cetinkaya, Randnr. 31, Aydinli, Randnr. 26, Derin, Randnr. 53 und Altun, Randnr. 36), so dass der Familienangehörige, der bereits Rechte nach diesem Beschluss innehat, seine Stellung im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise festigen und sich dort dauerhaft integrieren kann, indem er ein von der Person, von der er diese Rechte ableitete, unabhängiges Leben führt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Ergat, Randnrn. 43 und 44).

41 Bei der in vorstehender Randnummer dargelegten Auslegung handelt es sich lediglich um den Ausdruck des allgemeineren Grundsatzes der Wahrung wohlerworbener Rechte, der im Urteil vom 16. Dezember 1992, Kus (C-237/91, Slg. 1992, I-6781, Randnrn. 21 und 22), aufgestellt wurde und wonach die Rechte aus einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80, sobald sich der türkische Staatsangehörige wirksam auf sie berufen kann, nicht mehr vom Fortbestehen der zu ihrer Entstehung führenden Umstände abhängen, da dieser Beschluss keine solche Voraussetzung vorsieht. In der mit dem Urteil Kus abgeschlossenen Rechtssache war der fragliche Umstand eine Ehe, aufgrund deren der betroffene türkische Staatsangehörige in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats hatte einreisen dürfen und die dann zu einem Zeitpunkt geschieden wurde, zu dem der Betroffene bereits Rechte erworben hatte, in diesem Fall aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80. Mit Randnr. 22 des Urteils vom 5. Oktober 1994, Eroglu, C-355/93, Slg. 1994, I-5113, wurde dieser Grundsatz im Rahmen von Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 für anwendbar erklärt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Ergat, Randnr. 40, Aydinli, Randnr. 26, Derin, Randnr. 50, sowie Altun, Randnrn. 42 und 43).

42 Was als Fünftes die Umstände angeht, die zum Verlust der Rechte führen, die den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, welche die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen, durch diesen Absatz gewährt werden, kann es nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung nur zwei Arten von Beschränkungen dieser Rechte geben: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. u. a. Urteile Er, Randnr. 30, und Altun, Randnr. 62).

43 Der abschließende Charakter der in der vorstehenden Randnummer genannten Beschränkungen ist vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bestätigt worden (vgl. u. a. Urteile Cetinkaya, Randnr. 38, Derin, Randnr. 54, Er, Randnr. 30, sowie Altun, Randnr. 62).

44 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Scheidung der Ehe, sofern sie nach dem ordnungsgemäßen Erwerb der Rechte des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 durch den betreffenden Familienangehörigen erfolgt, für das Fortbestehen dieser Rechte zu seinen Gunsten auch dann unerheblich ist, wenn er sie ursprünglich nur von seinem früheren Ehegatten ableiten konnte.

45 Schließlich ist die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Auslegung nicht mit den Anforderungen des Art. 59 des am 23. November 1970 unterzeichneten Zusatzprotokolls unvereinbar. Wie nämlich die Generalanwältin in den Nrn. 50 bis 52 ihrer Schlussanträge mit einer Begründung, die der des Gerichtshofs in den Randnrn. 62 bis 67 des Urteils Derin und Randnr. 21 des Urteils vom 4. Oktober 2007, Polat (C-349/06, Slg. 2007, I-8167), entspricht, ausgeführt hat, ist angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung die Situation eines Familienangehörigen eines türkischen Wanderarbeitnehmers nicht mit der eines Familienangehörigen eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2010, Bekleyen, C-462/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 35 bis 38 und 43).

46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese nicht aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.

Zur zweiten Frage

47 Nach ständiger Rechtsprechung ist die wahrheitswidrige oder missbräuchliche Berufung auf die Normen des Unionsrechts nicht gestattet, und die nationalen Gerichte können im Einzelfall das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Umstände berücksichtigen, um ihnen gegebenenfalls den Vorteil aus den geltend gemachten Bestimmungen des Unionsrechts zu versagen (vgl. u. a. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C-212/97, Slg. 1999, I-1459, Randnr. 25, vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, Slg. 2006, I-1609, Randnr. 68, sowie vom 20. September 2007, Tum und Dari, C-16/05, Slg. 2007, I-7415, Randnr. 64).

48 Demgemäß hat der Gerichtshof ausgeschlossen, dass Beschäftigungszeiten, die ein türkischer Staatsangehöriger allein aufgrund einer Täuschung, die zu einer Verurteilung geführt hat, zurückgelegt hat, als im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ordnungsgemäß angesehen werden können, da der Betroffene die Voraussetzungen dieser Bestimmung in Wirklichkeit nicht erfüllte und ihm daher aus ihr von Rechts wegen kein Recht zustand (vgl. Urteile vom 5. Juni 1997, Kol, C-285/95,Slg. 1997, I-3069, Randnrn. 26 und 27, sowie vom 11. Mai 2000, Savas, C-37/98, Slg. 2000, I-2927, Randnr. 61).

49 Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger unberechtigterweise eine Besserstellung nach einer der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 verschafft. 50 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus den dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Unterlagen hervor, dass die nationalen Gerichte, die in der vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Rechtssache Sachentscheidungen gefällt haben, ausdrücklich festgestellt haben, dass Herrn Bozkurt die Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig zusteht. Im Übrigen ist vor dem Gerichtshof nichts vorgetragen worden, was die Annahme zuließe, dass es sich im Ausgangsverfahren um eine fiktive Ehe gehandelt hätte, die allein zu dem Zweck geschlossen worden wäre, missbräuchlich eine Besserstellung nach dem Recht der Assoziation EWG–Türkei zu erlangen.

51 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Herr Bozkurt im Ausgangsverfahren lediglich von seinen ihm durch den Beschluss Nr. 1/80 ausdrücklich verliehenen Rechten Gebrauch macht und er sämtliche Voraussetzungen für deren Erwerb erfüllt hat.

52 Darin, dass ein solcher türkischer Staatsangehöriger seine Rechte nach dem Beschluss Nr. 1/80, die er in der Vergangenheit ordnungsgemäß erworben hat, voll ausschöpft, kann für sich allein kein Rechtsmissbrauch gesehen werden.

53 Das vorlegende Gericht zweifelt jedoch, ohne allerdings eine Frage nach der Auslegung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu stellen, ob unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens die Berufung von Herr Bozkurt auf die nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworbene Rechtsstellung nicht gegen die öffentliche Ordnung verstößt angesichts der von ihm nach diesem Erwerb gegen die Person, von der er diese Stellung ableiten konnte, begangenen schweren Straftat.

54 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 der angemessene Rechtsrahmen für die Beurteilung ist, inwieweit einem wegen Straftaten verurteilten türkischen Staatsangehörigen durch Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaats die Rechte, die ihm unmittelbar aus diesem Beschluss erwachsen, genommen werden können (vgl. u.a. Urteil Derin, Randnr. 74).

55 Bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Ausnahme der öffentlichen Ordnung ist darauf abzustellen, wie die gleiche Ausnahme im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten der Union sind, ausgelegt wird (vgl. u. a. Urteil Polat, Randnr. 30).

56 Der Gerichtshof hat stets hervorgehoben, dass diese Ausnahme eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit darstellt, die eng auszulegen ist und deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. u.a. Urteil Polat, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt der Rückgriff einer nationalen Behörde auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil Polat, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58 Ferner darf bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden (Urteil Polat, Randnrn. 31 und 35).

59 Eine strafrechtliche Verurteilung darf daher nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (Urteil Polat, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60 Somit obliegt es den betreffenden nationalen Stellen, in jedem Einzelfall das persönliche Verhalten des Straftäters sowie die gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, zu prüfen und außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Grundrechte des Betroffenen zu wahren. Insbesondere kann eine auf Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gestützte Ausweisung nur dann beschlossen werden, wenn das individuelle Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet (vgl. Urteil Derin, Randnr. 74).

61 Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

- Die Berufung eines türkischen Staatsangehörigen wie des Klägers des Ausgangsverfahrens auf ein nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenes Recht ist nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn der Betroffene, nachdem er dieses Recht von seiner früheren Ehefrau abgeleitet hat, gegen diese eine schwere Straftat begangen hat, für die er strafrechtlich verurteilt wurde;

- Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern dessen persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall

ist. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Familienangehöriger einer dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmerin und aufgrund dessen, dass er fünf Jahre lang ununterbrochen bei ihr seinen Wohnsitz hatte, die mit der Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 verbundenen Rechte hat, diese nicht aufgrund der nach ihrem Erwerb ausgesprochenen Scheidung verliert.

2. Die Berufung eines türkischen Staatsangehörigen wie des Klägers des Ausgangsverfahrens auf ein nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenes Recht ist nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn der Betroffene, nachdem er dieses Recht von seiner früheren Ehefrau abgeleitet hat, gegen diese eine schwere Straftat begangen hat, für die er strafrechtlich verurteilt wurde. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 steht jedoch der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegen, sofern dessen persönliches Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist. [...]