OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2010 - OVG 11 S 62.10 - asyl.net: M18018
https://www.asyl.net/rsdb/M18018
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Abschiebung, da diese zu einer Trennung der Vater-Kind-Beziehung führen würde. Nach der Trennung der Eltern kommt eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei nicht in Betracht. Wegen der besonderen persönlichen Verbundenheit kommt eine Trennung der minderjährigen Kinder vom Vater ebenfalls nicht in Betracht.

Schlagwörter: inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Abschiebungshindernis, vorläufiger Rechtsschutz, Abschiebungsandrohung, Duldung, Eltern-Kind-Verhältnis, Vaterschaft, familiäre Lebensgemeinschaft, Zumutbarkeit, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Zutreffend geht das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die - dem Bundesverfassungsgericht folgende - Rechtsprechung des Senats davon aus, dass sich aus § 60a Abs. 2 AufenthG ein Anspruch auf zeitlich begrenzte Duldung wegen eines sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden inlandsbezogenen Abschiebungsverbots ergeben kann. Dass eine danach schützenswerte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zu einem hier lebenden Kind einen derartigen Anspruch begründen kann, wenn die Gemeinschaft nur hier verwirklicht werden kann, etwa weil ihm wegen der Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, stellt auch der Antragsgegner nicht in Frage. Zu Unrecht meint er jedoch, eine solche Unzumutbarkeit sei vorliegend schon deshalb zu verneinen, weil auch die A. als Mutter der Kinder zusammen mit diesen und dem Antragsteller in die Türkei übersiedeln könne, wenn sie nur wolle. Zwar sei diese schon im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und auch die Kinder hier geboren, gleichwohl liege noch keine einem faktischen Inländer vergleichbare Verwurzelung vor, die eine gemeinsame Ausreise unzumutbar erscheinen lasse. Damit verengt der Antragsgegner die Fälle des inlandsbezogenen Abschiebungsverbots aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK in unzulässiger Weise. Denn vorliegend existiert bereits seit langer Zeit - und ohne dass hieran Zweifel bestehen könnten - keine Lebensgemeinschaft mehr zwischen A. und dem Antragsteller. Vielmehr sind beide, wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat und insbesondere auch durch die Berichte des Jugendamts oder für dieses in der Familiengerichtsakte eindrucksvoll belegt wird, im Hinblick auf häusliche Gewalt derart zerstritten, dass die Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei ausgeschlossen erscheint. Somit geht es vorliegend nicht darum, ob eine Lebensgemeinschaft von Angehörigen eines gemeinsamen Heimatlandes auch dort fortgeführt werden kann und damit um die Frage, ob ein aufenthaltsberechtigter Ehegatte aufgrund fehlenden Willens zur Rückkehr in seine Heimat einen gemeinsamen Familienwohnsitz in Deutschland erzwingen kann. Dass ein derartiges Wahlrecht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK abgeleitet werden kann, verneint auch der Senat. Insofern setzt sich der Senat auch nicht, wie der Antragsgegner meint, in Widerspruch zum Beschluss des 3. Senats vom 10. Juli 2008 (OVG 3 S 44.08).

Da es vorliegend auch keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass die seit ihrer Kindheit in Deutschland lebende A. freiwillig in die Türkei übersiedeln würde, käme es im Falle der Abschiebung des Antragstellers zu einer Trennung der Kinder entweder von ihrer Mutter oder ihrem Vater. Bei dieser Sachlage ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, wobei auf der einen Seite das Maß der familiären Bindungen, auf der anderen Seite gegenläufige öffentliche Interessen zu berücksichtigen sind (vgl. die Beschlüsse des Senats vom 12. Mai 2009 - 11 S 2.09 - und vom 10. Mai 2010 - 11 S 13.10 -). Dass hierbei von einer besonderen persönlichen Verbundenheit des ebenfalls sorgeberechtigten Antragstellers zu seinen Kindern auszugehen ist und diese angesichts ihres Alters von nur vier bzw. sechs Jahren auch besonders auf ihren Vater angewiesen sind, hat das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt. Auch ein Bericht des Sozialpädagogischen Dienstes des Bezirksamts Neukölln, Abteilung Jugend, vom 3. November 2010 erbrachte keine abweichenden Erkenntnisse. Der Antragsgegner hat insoweit im Übrigen auch keine substantiierten Einwendungen erhoben.

Diese gewichtigen familiären Belange überwiegen die entgegenstehenden öffentlichen Interessen nach dem derzeitigen Erkenntnisstand deutlich. Die strafrechtlichen Verfehlungen des Antragstellers sind dabei ohne relevantes Gewicht. Der rechtskräftigen Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe vom 19. Januar 2000 liegt ein Verhalten aus dem Jahre 1998 zugrunde, dem rechtskräftigen Strafbefehl zu einer geringen Geldstrafe vom 19. März 2005 ein solches aus dem Jahr 2004. Aus den noch offenen Ermittlungsverfahren lässt sich Verwertbares derzeit nicht schließen. Auch die fehlende Lebensunterhaltssicherung des Antragstellers aus eigenen Mitteln und die Verweigerung der Mitwirkung an der Beschaffung eines türkischen Passes gebieten keine andere Beurteilung. Die Ausführungen des Antragsgegners zur Berücksichtigung missbräuchlicher Umgehung des Visumsverfahrens bzw. illegalen Einreise zur Herstellung einer familiären Gemeinschaft mit einem hier lebenden Kind sind angesichts der geschilderten Aufenthaltsgeschichte des Antragstellers vorliegend verfehlt. [...]