VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 26.04.2010 - A 1 K 1911/09 - asyl.net: M18013
https://www.asyl.net/rsdb/M18013
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen landesweiter nichtstaatlicher Verfolgungsgefahr für Homosexuellen im Irak.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, homosexuell, Mosul, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG zuzuerkennen, weil er den Irak im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG vorverfolgt verlassen hat und er bei einer Rückkehr in den Irak nicht mit hinreichender Sicherheit vor Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift geschützt ist. Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung liegt vor, weil dem Kläger als Homosexuellen und damit als Mitglied einer sozialen Gruppe Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure unmittelbar drohte und kein schutzbereiter Akteur vorhanden ist. [...]

Das Gericht geht aufgrund des glaubhaften Vortrags des Klägers davon aus, dass der Kläger zumindest auch homosexuell ist, dies in seiner Umgebung bekannt geworden ist und dass Leib und Leben des Klägers durch seinen Onkel und durch islamische Fundamentalisten bedroht war. Der Kläger berichtete, dass er von seinem Onkel bei homosexuellen Handlungen mit einem Freund überrascht wurde, der Onkel ihn mit einem Gegenstand angriff und er von den Nachbarn beleidigt wurde. Seine Homosexualität sei Terroristen bekannt geworden. Diese hätten ihm dadurch mit dem Tode gedroht, dass sie auf Wandaufschriften seinen Tod für erlaubt erklärt hätten, weil er gegen die islamischen Sitten verstoßen habe. Diese Drohungen sind nach den Erkenntnissen des Gerichts über die Lage von Homosexuellen im Irak sehr ernst zu nehmen. Das Gericht stützt sich auf folgende Erkenntnisse:

1. Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak 12.08.2009, Seite 18).

"1.7.2 Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität

Homosexueller Geschlechtsverkehr wird durch Art. 393 im noch gültigen Strafgesetz Nr. 111 aus dem Jahre 1969 mit einer Strafe von bis zu sieben Jahren (bei einverständlichem Verkehr mit gleichgeschlechtlichen Personen zwischen 15 und 18 Jahren) bzw. drei Jahren Haft (ab 18 Jahren) bewehrt.

Homosexualität ist traditionell in der Gesellschaft geächtet. Internationale Homosexuellen-Organisationen berichten davon, dass mit wachsender religiöser Radikalisierung der Bevölkerung Homosexuelle und als homosexuell angesehene Personen zunehmend ins Visier der Moralwächter geraten. Für als homosexuell identifizierte Männer besteht ein hohes Risiko von sozialer Ächtung bis hin zu Verfolgung, Folter und Mord. Das geistige Oberhaupt der schiitischen Iraker hat 2005 in einer Fatwa, die auf seiner Webseite veröffentlicht wurde, zur Tötung aller Homosexuellen aufgerufen, die Fatwa wurde später wieder von der Webseite entfernt. Unter den derzeitigen Umständen ist eine Existenz als offen lebender homosexueller Mann oder als 'Transgender' nur mit unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben möglich".

2. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak, Gefährdung von Homosexuellen,

09.11.2009, Seite 1 bis 3:

"Homosexualität ist im Irak zwar nicht verboten, sie wird jedoch tabuisiert und als gegen den Islam gewertet. Homosexuelle Menschen können ihre Neigung nur im Geheimen ausleben ... Seit 2003 wurden Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender (LGBT) immer wieder diskriminiert, gefoltert und getötet; die Täter bleiben straffrei ...

Im Zentral- und Südirak werden Homosexuelle Opfer von Folter und Tötung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure. Oft sind sie auch durch ihre Familien gefährdet, die sie im Namen der Ehre umbringen. Iraqi LGBT, eine NGO mit Sitz in London, berichtet von über 480 getöteten Homosexuellen seit 2003. Andere Schätzungen gehen von über 680 getöteten Homosexuellen aus.

Schutz durch die irakischen Behörden gibt es nicht ...

Die Gewalt gegen Homosexuelle eskalierte nach der US-amerikanischen Invasion im Irak im Jahr 2003. Seit Anfang 2009 kam es zu einer regelrechten Terrorwelle gegen Homosexuelle. Schätzungen gehen von mehr als 130 getöteten Homosexuellen aus ...

... Eine Milizgruppe Fazilaf (Tugend) verteilte in Sadr City Listen von Homosexuellen und bedrohte sie mit dem Tod. Gemäß Guardian attackierten Todesschwadronen der Badre-Organisation und der Mahdi-Armee Homosexuelle im Rahmen systematischer Säuberungsaktionen. Die Milizen hätten verkündet, dass in vielen Städten die 'Perversen und Sodomisten' bereits eliminiert seien."

3. UNHCR, Position zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde vom 22.5.2009 [...]

4. Home Office, UK Border Agency, Country of Origin Report Irak, 10.12.2009 (Rdnr. 23, lesbische, homosexuelle, bisexuelle und transsexuelle Personen < 23. LESBIAN, GAY, BISEXUAL AND TRANSGENDER (LGBT) PERSONS>

Der Report des Home Office zitiert zahlreiche Berichte anderer Organisationen über die Verfolgungslage homosexueller Personen im Irak. Nach den Zitaten unter den Rdnr. 23.01 und 23.02 verbietet das Irakische Strafgesetzbuch gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht. Art. 393 des Irakischen Strafgesetzbuchs sei nach dem Zitat unter der Rdnr. 23.03 so auszulegen, dass es homosexuelle Handlungen nur dann unter Strafe stelle, wenn sie gegen den Willen des anderen erfolge. Nach dem Zitat unter der Rdnr. 23.06 unternehme die irakische Polizei und die irakischen Sicherheitskräfte wenig, um das Morden aufzuklären oder zu beenden. Die Behörden hätten keine Verhaftungen oder Strafverfahren bekannt gegeben. Es sei unwahrscheinlich, dass es zu Verhaftungen oder Strafverfahren gekommen sei. Es wird von Überfällen auf Treffpunkte der Homosexuellen und davon berichtet, dass die Namen von Personen, die als Homosexuelle verdächtigt werden, auf Wände geschrieben worden seien und dass sie telefonische oder schriftliche Todesdrohungen erhalten hätten (Zitat unter Rdnr. 23.18).

Aufgrund der aufgeführten Quellen kann zwar keine Verfolgung oder drohende Verfolgung des Klägers oder anderer Homosexueller durch den irakischen Staat als Akteur mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden. Homosexuelle Handlungen als solche werden durch Art. 393 irakisches Strafgesetzbuch nicht unter Strafe gestellt. Sie sind nach dieser Vorschrift nur strafbar, wenn sie gegen den Willen (without her/without their consent) des anderen erfolgen. Die Vorschrift hat den Wortlaut:

"Article 393 - (1) Any person who has sexual intercourse with a female without her consent or commits buggery with any person without their consent is punishable by a term of imprisonment not exceeding 15 years (Quelle: The University of Utah S.J. Quinney College of Law, Global Justice Project: Iraq, www.gjpi.org).

Nach der Auskunft des Deutschen Orient Instituts vom 04.07.2005 werden homosexuelle Handlungen nach Art. 400 des irakischen Strafgesetzbuchs bestraft:

Article 400 - Any person who commits an immodest act with a man or woman and without his or her consent is punishable by a period of detention not exceeding 1 year plus a fine not exceeding 100 dinars or by one of those penalties. ( Diese Vorschrift steht unter "CHAPTER NINE: Moral indecency - public etiquette SECTION THREE: Immodest and shameful acts", Quelle wie oben).

Die Bestrafung hängt aber auch hier davon ab, dass die unanständige Handlung (immodest act) ohne Zustimmung des Mannes oder der Frau (without his or her consent) erfolgt. Der Umstand, dass der Kläger nicht nach Art. 400 des irakischen Strafgesetzbuchs bestraft wurde, erklärt sich eher damit, dass seine Handlung diesem Tatbestand nicht unterfällt, da die homosexuellen Handlungen des Klägers im Einverständnis mit dem anderen Mann erfolgt sind. Auf eine fehlende Glaubwürdigkeit des Klägers kann daraus jedenfalls nicht geschlossen werden.

Fraglich ist auch eine Strafbarkeit nach Art. 401 des irakischen Strafgesetzbuchs:

Article 401 - Any person who commits an immodest act in public is punishable by a period of detention not exceeding 6 months plus a fine not exceeding 50 dinars or by one of those penalties (Quelle wie oben).

Hier hängt die Strafbarkeit des "immodest act" nicht von der fehlenden Zustimmung des anderen ab, sondern wie auch schon in Art. 400 des irakischen Strafgesetzbuchs davon, dass die Tat in der Öffentlichkeit (in public) stattfindet. Auch scheint der irakische Staat hier nicht als extralegaler Verfolger in Erscheinung zu treten. Vielmehr scheint er nur der Verfolgung Homosexueller durch nichtstaatliche Akteure nichts entgegenzusetzen und diese gewähren zu lassen. Die Frage der staatlichen Verfolgung Homosexueller kann aber wegen des Vorliegens einer Verfolgung durch private Akteure letztendlich offen bleiben.

Aufgrund der genannten Quellen lässt sich aber eine Verfolgung homosexueller Personen durch nichtstaatliche Akteure feststellen, vor der die Homosexuellen keinen Schutz finden können. Allein die Zahl der Getöteten zeigt, dass es sich bei den Verfolgungsmaßnahmen nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass sie an der Tagesordnung sind. Aufgrund der Verwurzelung der Verfolgung in den religiösen Ansichten der Verfolger kann auch davon ausgegangen werden, dass die Vorfälle nicht auf einzelne Landesteile des Irak beschränkt sind. Die islamische Religion ist im Irak landesweit verbreitet. Auch vom Auswärtigen Amt, das von unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben für homosexuelle Männer ausgeht, deren Homosexualität bekannt ist, macht für diese Gefahr keine regionalen Einschränkungen. Aufgrund dieser Lagebeurteilung und der Angaben des Klägers ist davon auszugehen, dass er den Irak vor unmittelbar drohender Verfolgung verlassen hat, wenn nicht schon der versuchte Angriff des Onkels des Klägers als Verfolgung einzuschätzen ist.

Da der Kläger vor zumindest unmittelbar bevorstehender Verfolgung geflohen ist, kann eine Rückkehr in den Irak von ihm nur verlangt werden, wenn er dort vor Verfolgung hinreichend sicher ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29.04.2004 (ABI. L 12 - QualfRL)). Eine hinreichende Sicherheit kann aufgrund der weiter bestehenden Verfolgungssituation nicht festgestellt werden. Wegen ihres landesweiten Auftretens auch nicht in einem Teilgebiet des Irak (interne Fluchtalternative). [...]