BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 19.10.2010 - 5235700-475 - asyl.net: M17993
https://www.asyl.net/rsdb/M17993
Leitsatz:

1. Zur Glaubhaftmachung einer PTBS und drohender Retraumatisierung als zielstaatsbezogene Gesundheitsgefahr.

2. Die medizinische Versorgung in Syrien ist im Grundsatz flächendeckend und kostenfrei möglich. Die für psychische Erkrankungen erforderlichen Medikamente und Wirkstoffe, die in Syrien erhältlich sind, können dem Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland vom 20.8.2007 (Gz.: RK 516 SE/BAMF) entnommen werden.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Syrien, Posttraumatische Belastungsstörung, Amtsermittlung, Sachverständigengutachten, psychische Erkrankung, Krankheit, medizinische Versorgung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Glaubhaftmachung, Retraumatisierung, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Von einer Abschiebung gemäß § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG soll abgesehen werden, wenn dem Ausländer eine erhebliche, individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht, wobei es nicht darauf ankommt, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Es muss jedoch über die Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung deutlich übersteigt (vgl. die insoweit auf § 60 Absatz 7 AufenthG übertragbaren Entscheidungen BVerwG, Urteile vom 29.11.1977, BVerwGE 55, 82, 1 C 33.71; vom 17.01.1989, EZAR 201 Nr. 19, 9 C 62.87; vom 30.10.1990, BVerwGE 87, 52, 9 C 60.89; vom 17.10.1995, BVerwGE 99.324, 9 C 9.95, und vom 23.08.1996, 9 C 144.95). Eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG kann auch dann vorliegen, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die drohende Gefahr kann in diesem Fall auch durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt sein. Der Begriff der "Gefahr" in § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG ist hinsichtlich seines Entstehungsgrundes nicht einschränkend auszulegen, und es ist deshalb unerheblich, ob sich die Gefahr aus einem Eingriff, einem störenden Verhalten oder aus einem Zusammenwirken mit anderen, auch anlagebedingten Umständen ergibt ( BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383,) c 58.96 ). Die Gefahr ist "erheblich" im Sinne von § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn der Asylbewerber alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, a.a.O.).

In der fachpsychologischen gutachterlichen Stellungnahme zur Vorlage bei Behörden und Gerichten des Dipl.-Psych. Dr. ..., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker DGIP, DGPT, Kinder- und Jugendlichentherapeut, Gesprächspsychotherapeut, vom 01. September 2006 wird eine ursprüngliche (Bl. 11) PTBS, bei der es sich nunmehr um eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung nach ICD 10-F 62.0 handeln würde, lediglich behauptet, jedoch nicht ansatzweise dargelegt. Unabdingbare Voraussetzung für das Vorliegen einer PTBS ist aber das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses (= A-Kriterium ). Dieses muss explizit eruiert werden, was im vorliegenden Fall nicht geschehen ist. Die Angaben des Antragstellers zu dem oder den traumatisierenden Erlebnis(sen) wurden vom Verfasser der Stellungnahme offensichtlich ungeprüft übernommen. Eine kritische Prüfung mit weiter gehender Begründung, warum im September 2006 eine derartige Erkrankung diagnostiziert werden konnte, hätte sich im hier vorliegenden Fall zudem zwingend aufgedrängt, zumal das Vorbringen des Antragstellers im Erstverfahren (= Aktenzeichen 2 587 568 - 475), als deren Folge eine PTBS-Erkrankung aufgetreten sein soll, sowohl vom Bundesamt (= Bescheid vom 22. September 2000 ) als auch vom Verwaltungsgericht Arnsberg (= Urteil vom 01. Juli 2003) als unglaubhaft, damit letztendlich auch hinsichtlich seines geltend gemachten Gesundheitszustandes, bewertet worden ist. Somit beschränkt sich die fachpsychologische gutachterliche Stellungnahme im Wesentlichen auf die Wiedergabe der - offenbar nicht weiter überprüften - Angaben des Antragstellers, als deren Folge aus einer ursprünglichen PTBS nunmehr eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung diagnostiziert worden ist. Darüber hinaus ist gemäß Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. September 2007 (Aktenzeichen 10 C 8.07) eine ärztlich-psychologische Äußerung dann nicht hinreichend, um eine Pflicht zu weiterer Sachaufklärung auszulösen, wenn sie "keine nachvollziehbar begründete eigene Diagnose stellt." Das Bundesverwaltungsgericht stellt hierzu insbesondere beispielhaft die Anforderung, dass "wenn das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Herkunftsland gestützt wird und Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen werden", dass dann "in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich ist, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist." Eine solche Erklärung konnte zwar zum damaligen Zeitpunkt nicht abgegeben werden, die Möglichkeit, aufgrund der Anschreiben des Bundesamtes an den Bevollmächtigten bzw. dem Antragsteller unmittelbar, diesen Mangel zu beseitigen, wurde vom Antragsteller nicht genutzt. Den aus der Diagnose einer PTBS gefolgerten Gesundheitsgefahren ist somit schon deshalb die Herleitungsbasis entzogen, weil die Diagnose, wie vorstehend dargelegt, nicht nachvollziehbar begründet wurde.

Aus dem Schreiben des Kreisklinikums Siegen vom 21. Mai 2008 ergibt sich, dass während des dortigen Aufenthaltes diagnostisch "... keine Anzeichen für eine derzeit bestehende PTBS gefunden werden konnten...". Gesundheitsgefahren, die dem Antragsteller bei evtl. Rückkehr in sein Herkunftsland dort drohen, wurden nicht genannt, so dass diesem Schriftstück für die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, keinerlei Bedeutung zukommt.

Unabhängig von obigen Einschätzungen sind die aus den Diagnose der PTBS/Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung gefolgerten Gesundheitsgefahren im hier vorliegenden Fall nicht geeignet, den Tatbestand des § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG zu erfüllen.

Rechtlicher Anknüpfungspunkt des § 60 Absatz 7 AufenthG für die Gewährung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutzes ist nicht eine in der Vergangenheit liegende Traumatisierung im Herkunftsland oder eine derzeit bestehende Erkrankung, sondern die künftige Gefahr der wesentlichen Gesundheitsverschlechterung alsbald nach Rückkehr in den Herkunftsstaat. Zentrale Prüfungsfrage, die durch den Gesetzeswortlaut und die diesen erläuternde Rechtsprechung geformt wurde, ist daher, ob dem Antragsteller alsbald nach Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterung droht. Für die Nachvollziehbarkeit von Gesundheitsgefahren ist deren bloße Behauptung nicht ausreichend, sondern die genannten Gesundheitsgefahren müssen begründet werden. Daher ist die Prüfung, welche Gefahren sich aus der Erkrankung/den Erkrankungen ergeben, jeweils das Ergebnis der Umstände des Einzelfalls und muss selbstverständlich auch einzelfallbezogen begründet werden. In den hier vorliegenden medizinischen Unterlagen wurde nicht nachvollziehbar dargelegt, dass dem Antragsteller alsbald nach Rückkehr in sein Herkunftsland eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterung droht.

In Bezug auf die Diagnose einer "Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, ICD 10" fehlt der Nachweis einer eindeutigen und anhaltenden Änderung in der Wahrnehmung, in der Beziehung und im Denken des Betroffenen in Bezug auf seine Umgebung und sich selbst. Im Dunklen bleibt zudem, wie der Verfasser der Stellungnahme vom 01. September 2006 feststellen konnte, dass die Persönlichkeitsänderung seit zwei Jahren besteht (= E-Kriterium ), obwohl lediglich drei Untersuchungsgespräche (04., 11. und 18. August 2006) stattgefunden haben.

Sofern vom Verfasser der Stellungnahme darüber hinaus Gefahren bei zwangsweiser Rückkehr (= "... Ausweisung besteht ein Risiko akuter Suizidalität ...", "... ist nicht reisefähig ...") ins Herkunftsland genannt werden, treten diese bereits vor oder während des Abschiebevorganges auf, so dass sie im Rahmen inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse zu prüfen sind und nicht in den Schutzbereich des § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG fallen, der nur vor zielstaatsbezogenen Gefahren schützt.

Zur angeführten "Retraumatisierung" wird auf die Ausführungen auf der 9. Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) verwiesen. Danach ist der Begriff "Retraumatisierung" bisher uneinheitlich definiert. Über die Dauer und Intensität der Exazerbation der Symptomatik bzw. den Auslöser herrscht Unklarheit" (s. 9. Jahrestagung der DEGPT vom 10. bis 13. Mai 2007, Universität Hamburg). Wenn der Auslöser aber unklar ist, ist eine pauschale Prognose, dass eine Retraumatisierung nach Rückführung ins Herkunftsland durch eben dieses ausgelöst wird, schlechterdings unmöglich. Ist die Intensität der Exazerbation der Symptomatik unklar, kann gerade nicht prognostiziert bzw. festgestellt werden, dass eine wesentliche Gesundheitsverschlechterung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Rückführung ins Herkunftsland droht.

Aus den Antworten des Herrn ... vom 01. April 2010 zu den vom Bundesamt gestellten Fragen zur aktuellen gesundheitlichen Situation des Antragstellers ergeben sich nicht ansatzweise zielstaatsbezogene Gesundheitsgefahren. Den bestätigten und aktuell auch weiterhin durchgeführten monatlichen Regelgesprächen, u.a. in Form von Atem- und Entspannungsübungen sowie begleitende Reaccessing, sind Gesundheitsgefahren nicht zu entnehmen. Der Hinweis auf Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes auf die konkrete Fragestellung, welche Gefahren dem Antragsteller bei Rückführung drohen, ist nicht zielführend, da aus derartigen Aussagen keine konkrete individuelle Gesundheitsgefahr für den Antragsteller abgeleitet werden kann. Welche konkrete Fachkompetenz bei Herrn ... vorliegt und zu seiner Aussage führt, im Heimatland sei eine Beratung und Behandlung einer PTBS nicht durchführbar, ist nicht bekannt. Gesundheitsgefahren werden damit jedoch nicht genannt und das traumatisierte Menschen in Syrien medizinisch/ärztlich dort nicht behandelt werden können, dürfte jeder sachlichen Grundlage entbehren. Zur auch hier angeführten "Retraumatisierung" sowie "Gefahren bei Abschiebung" wird auf die dazu an anderer Stelle des Bescheides gemachten Ausführungen verwiesen. Die im Schreiben vom 01. April 2010 mehrfach angeführte "Trennung von der Familie" ist unverständlich, da der Antragsteller und seine gesamte Familie ausreisepflichtig ist und damit eine ggf. erfolgte Rückführung im Familienverbund erfolgen wird. Die mehrfachen Hinweise von Herrn ... auf Untersuchungsergebnisse eines Dr. ... sind hier nicht bekannt und wurden auch bis heute nicht eingereicht.

Auf die abschließende Frage, ob dem Antragsteller in seinem Heimatland Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, so dass die Gefahr einer Gesundheitsverschlechterung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintritt, kommt es nur an, wenn zuvor das Bestehen solcher Gefahren festgestellt worden ist. Dies ist aber im hier vorliegenden Verfahren, wie zuvor begründet, nicht der Fall.

Zur Vervollständigung, ohne das es aufgrund der o.a. Ausführungen darauf überhaupt noch ankommt, sollte noch erwähnt werden, dass die medizinische Versorgung in Syrien im Grundsatz flächendeckend und kostenfrei möglich ist (s. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: September 2010, vom 27. September 2010, Gz.: 508-516.80/3 SYR). Die für psychische Erkrankungen ggf. erforderlichen Medikamente/Wirkstoffe, die in Syrien vorhanden/erhältlich sind, können dem Bericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland vom 20.08.2007, Gz.: RK 516 SE/BAMF, entnommen werden. [...]