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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 12.11.2010 - 5419685-144 - asyl.net: M17984
https://www.asyl.net/rsdb/M17984
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Roma in Mazedonien. Roma sind von allen Minderheiten zwar am stärksten Diskriminierungen ausgesetzt; Anhaltspunkte dafür, dass diese von ihrer Art und Intensität her über asylrechtlich unerhebliche Benachteiligungen hinausgehen, gibt es jedoch nicht. Festgestellt wird jedoch ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Mazedonien, Roma, Gruppenverfolgung, Asylfolgeantrag, Diskriminierung, Krankheit, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Bei einer Rückkehr nach Mazedonien hat die Antragstellerin Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG durch den Staat nicht zu befürchten. Eine gezielte und systematische politische Verfolgung bestimmter Gruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung findet grundsätzlich nicht statt. Bei den Menschen- und Minderheitenrechten setzt die Verfassung hohe Standards und diese werden im Allgemeinen respektiert.

Entsprechendes gilt für die Minderheitengruppe der Roma.

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass Roma in Mazedonien einer staatlichen Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt wären (vgl. VG Dresden, Urteil vom 05.03.2009, A 3 K 30128/05, VG Freiburg, Urteil vom 04.11.2008, A 3 K 276/07; VG Sigmaringen, Urteil vom 14.07.2004, A 7 K 10285/04, VG Aachen, Urteil vom 28.05.2004, 1 K 1927/03.A; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.04.2004, 15 K 4904/03.A; VG Ansbach, Urteil vom 15.05.2002, AN K 02.300069; VG Augsburg, Urteil vom 03.05.2002, Au 7 K 02.30230, VG Saarlouis, Urteil vom 06.02.2002, 10 K 179/.A; VG Köln, Urteil vom 28.08.2001, 22 K 1765/95.A, VG Gießen, Urteil vom 11.08.2000, 9 E 30432/96.A). Roma unterliegen grundsätzlich auch keiner nichtstaatlichen Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG. Es sind auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der mazedonische Staat Übergriffe Dritter duldet.

In Mazedonien leben laut Volkszählung von 2002 53.879 Roma (2,66 %). Der tatsächliche Anteil heute dürfte aber bei 5-6 % liegen. (Roma Education Fund, Advancing Education of Roma in Macedonia, 2007, www.romaeducationfund.hu/documents/Macedonia_report.pdf). Roma haben in Mazedonien die gleichen Minderheitenrechte wie andere Volksgruppen; dies ist durch die Verfassungsreform vom 16.11.2001 in der mazedonischen Verfassung ausdrücklich verankert worden. Zwar bleibt das "mazedonische Volk" weiterhin als staatsbildend erwähnt, doch zählt die Präambel unter allen Staatsbürgern ausdrücklich auch Minderheiten in den Grenzen Mazedoniens auf und stellt damit die verschiedenen Volksgruppen auf die gleiche Stufe. Die Minderheiten der Albaner, Türken, Serben, aber auch Roma sind durch die Verfassung ausdrücklich geschützt. Es liegen auch keine Erkenntnisse über gezielte staatliche Übergriffe gegen Roma vor. Sie werden in gleicher Weise gefördert wie andere mazedonische Staatsangehörige und können weitgehend ihre kulturelle Identität leben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Mazedonien vom 28.01.2005, 508-516.80/3 MKD). Im mazedonischen Parlament haben auch frei gewählte Roma Sitz und Stimme, wodurch ihre unmittelbare Interessenvertretung gewährleistet ist. Bei den Wahlen 2008 erhielt das Bündnis "Für ein besseres Mazedonien" aus der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation - Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit (VMRO-DPMNE) und 18 weiteren Parteien (darunter fünf Parteien der Roma) 82 der 120 Sitze im Parlament (Munzinger-Online/IH - Länder Aktuell, Mazedonien - Politik, 17.08.2010). Insgesamt mangelt es aber noch an einer gezielten Integrationspolitik. Im November 2009 legte die Europäische Kommission einen negativen Bericht zum Fortschritt Mazedoniens bei der Bekämpfung der Diskriminierung von Roma vor. Die überarbeiteten staatlichen Aktionspläne zur Integration der Roma für das nächste Jahrzehnt wurden erst im Mai 2009 angenommen. Die Regierung versäumte es, finanzielle Mittel für die Implementierung der staatlichen Aktionspläne zur Verbesserung des Status der Roma-Frauen bereitzustellen (EU-Kommission, The Former Yugoslav Republic of Macedonia, 2009 Progress Report).

Roma sind von allen Minderheiten am stärksten Diskriminierungen ausgesetzt. Sie sind häufiger Opfer des Missbrauchs von Polizeigewalt und Mängeln der Justiz, aber auch der Benachteiligung bei Einstellungen öffentlicher oder privater Arbeitgeber und im Bildungswesen. Dies ist nach Einschätzungen der OSZE vor allem ein soziales, weniger ein ethnisches Problem. Roma sind von der schwierigen wirtschaftlichen Lage Mazedoniens als Transformationsland, nicht zuletzt aufgrund ihres im Durchschnitt niedrigen Bildungsstandes, in besonderem Maße betroffen. Sie gehören oft den unteren sozialen Schichten an und haben vor allem deshalb unter den Vorurteilen und Ablehnung der übrigen Volksgruppen zu leiden. Viele Roma lassen weder sich noch ihre Kinder, etwa bei Zuzug oder Hausgeburten, bei den zuständigen staatlichen Stellen registrieren. Damit fallen viele Roma durch das in Mazedonien, wenn auch in bescheidenem Rahmen, bestehende soziale Netz (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.). Ein vom UNHCR koordiniertes und von Roma-NGOs umgesetztes Registrierungsprogramm führte jedoch zu einer beträchtlichen Reduzierung der Anzahl nicht registrierter Roma (Amnesty International, Jahresbericht 2010). Roma sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht von sozialen Leistungen ausgeschlossen. Die gesetzlichen Bestimmungen bieten ihnen unter gleichen Voraussetzungen wie allen anderen ethnischen Gruppen Zugang. Die Möglichkeit der Roma-Kinder zu schulischer Bildung wurde durch staatliche Maßnahmen für die Bereitstellung kostenloser Schulbücher und Schultransporte sowie Stipendien für Schüler der Sekundarstufe verbessert. Eine wachsende Zahl von Kindern besuchte jedoch noch Schulen, an denen Kinder der Mehrheitsgesellschaft und Roma-Kinder faktisch getrennt wurden (Amnesty International, Jahresbericht 2010).

Anhaltspunkte dafür, dass Diskriminierungen von ihrer Art und Intensität her über asylrechtlich unerhebliche Benachteiligungen hinausgehen, gibt es jedoch nicht. Ebenso wenig gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der mazedonische Staat ein rechtswidriges Vorgehen Dritter gegen Roma duldet oder gar unterstützt.

Die Antragstellerin hat auch nicht geltend gemacht, asylrechtlich erhebliche Übergriffe und Benachteiligungen erlitten zu haben. [...]

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Mazedonien vor.

Von einer Abschiebung soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländerin eine erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Eine erhebliche konkrete Gefahr i. S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann auch dann vorliegen, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der die Ausländerin bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die drohende Gefahr kann in diesem Fall auch durch die individuelle Konstitution der Ausländerin bedingt sein. Der Begriff der "Gefahr" in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist hinsichtlich seines Entstehungsgrundes nicht einschränkend auszulegen, und es ist deshalb unerheblich, ob sich die Gefahr aus einem Eingriff, einem störenden Verhalten oder aus einem Zusammenwirken mit anderen, auch anlagebedingten Umständen ergibt (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383).

Die Gefahr ist "erheblich" i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn die Asylbewerberin alsbald nach ihrer Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil sie auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung ihres Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG. Urteil vom 25.11.1997, a.a.O.).

Aufgrund der vorliegenden ärztlichen Gutachten liegt ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Mazedonien vor. [...]