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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 29.09.2010 - V ZB 233/10 - asyl.net: M17973
https://www.asyl.net/rsdb/M17973
Leitsatz:

1. Bei Minderjährigen kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Anordnung von Abschiebungshaft wegen der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zu. Bei Zweifeln über die Minderjährigkeit sind hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes zu stellen, im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen zu entscheiden. Die auf ein großes Erfahrungswissen gestützte Entscheidung des Haftrichters, der Betroffene sei volljährig, reicht in der Regel nicht aus, um ein sicheres Bild zu gewinnen. Vielmehr sind die nach § 49 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen.

2. Bei normalem Verfahrensgang ist davon auszugehen, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat nach der Dublin II-VO innerhalb von drei Monaten seit der Haftanordnung erfolgen kann (§ 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG).

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zurückschiebungshaft, vorläufiger Rechtsschutz, Haftgründe, Altersfeststellung, minderjährig, Verhältnismäßigkeit, Amtsermittlung, Drei-Monats-Frist, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Österreich,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 57, FamFG § 26, AufenthG § 49 Abs. 3, AufenthG § 49 Abs. 6, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, VO 343/2003 Art. 17 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 6, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

2. Im Ergebnis nicht zu beanstanden wird auch die Auffassung des Beschwerdegerichts sein, dass das Alter des Betroffenen der Inhaftierung nicht entgegensteht.

a) Allerdings kommt bei minderjährigen Ausländern dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Anordnung von Sicherungshaft wegen der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zu (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 30. August 2004 - 20 W 245/04, juris, Rn. 3; OLG Köln, OLGR 2003, 193; OLG München, OLGR 2005, 393, 394; OLG Rostock, OLGR 2006, 993, 994; OLG Zweibrücken, OLGR 2006, 599; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand, 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rn. 31; Art. 17 RL 2008/115/EG, ABl. L 348 S. 97, 106; s. auch Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, Rn. 27, juris). Anstelle von Haft kommt beispielsweise in Betracht, den Ausländer in einer Einrichtung für Jugendliche unterzubringen, ihm Meldepflichten aufzuerlegen oder anderweitig in seiner Bewegungsfreiheit räumlich zu beschränken (vgl. OLG Köln, NVwZ 2003, Beilage I 8/2003, S. 64).

b) Der Senat wird indes an die Feststellung des Beschwerdegerichts gebunden sein, dass der Betroffene volljährig ist.

aa) Mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, die Folgerungen des Tatrichters seien nicht zwingend oder eine andere Schlussfolgerung liege ebenso nahe (Senat, Beschluss vom 10. Februar 2000 - V ZB 5/00, FGPrax 2000, 130). Bei Zweifeln über die Minderjährigkeit des Betroffenen sind allerdings hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 26 FamFG) zu stellen, und im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen zu entscheiden (vgl. OLG Köln, OLGR 2009, 811, 812). Der Rechtsbeschwerde ist auch zuzugeben, dass die auf ein großes Erfahrungswissen gestützte Einschätzung des Haftrichters, der Betroffene sei volljährig, in der Regel nicht ausreicht, um ein sicheres Bild zu gewinnen. Vielmehr sind die nach § 49 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen.

bb) Im vorliegenden Fall hat sich das Beschwerdegericht als Tatgericht aber nicht darauf beschränkt, bei der Beurteilung des Lebensalters des Betroffenen auf seine Erfahrung abzustellen. Vielmehr hat es die eigenen Angaben des Betroffenen einer kritischen Würdigung unterzogen. Dabei hat es entscheidend darauf abgehoben, dass der Betroffene sich im Zusammenhang mit dem Asylantrag in Österreich als volljährig dargestellt und erst bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht angegeben hat, er sei am 1. Januar 1993 geboren. Die Widersprüchlichkeit seiner Angaben hat er damit begründet, "die Jungs" hätten ihm geraten, er solle, egal wo er gefragt werde, angeben, erst 17 Jahre alt zu sein. Dass das Beschwerdegericht aus diesen besonderen Umständen und gestützt auf den eigenen Erfahrungsschatz den Schluss darauf gezogen hat, dass der Betroffene volljährig ist, ist eine durchaus mögliche, wenn nicht sogar naheliegende Würdigung, die einer Prüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren standhalten dürfte.

3. Die angefochtene Entscheidung wird auch im Hinblick darauf nicht zu beanstanden sein, dass die Haft unzulässig ist, wenn feststeht, dass die Zurückschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts ist Österreich nach der Dublin II-Verordnung zur Rückübernahme verpflichtet. Bei normalem Verfahrensgang ist davon auszugehen, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat innerhalb von drei Monaten seit der Haftanordnung wird erfolgen können (vgl. OLG Hamm, InfAuslR 2010, 202, 203). Die Identität des Betroffenen steht fest, und im Rahmen der Zurückschiebung nach der Dublin II-Verordnung hat der um Rückübernahme ersuchte Staat die Fristen nach Art. 17 Abs. 2 (sog. Dringlichkeitsverfahren) und Art. 18 Abs. 1, 6 und 7 Dublin II-Verordnung, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 des Rates mit Durchführungsbestimmungen zur Dublin II-Verordnung (ABl. L 222 S. 3) zu beachten. Nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-Verordnung gilt die Zustimmung des Staates zur Rückübernahme des Ausländers gar als erteilt, wenn nicht innerhalb der Monats- beziehungsweise Zwei-Monats-Frist eine Entscheidung ergangen ist (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 152). [...]