VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.11.2010 - 11 S 2481/10 - asyl.net: M17971
https://www.asyl.net/rsdb/M17971
Leitsatz:

1. Auch die Bestimmungen des § 54a Abs. 2 bis 4 AufenthG setzen voraus, dass die Ausweisungsverfügung sofort vollziehbar ist.

2. Im Rahmen der Anwendung des § 54a AufenthG entfaltet die sofort vollziehbare Ausweisungsverfügung Tatbestandswirkung mit der Folge, dass deren Rechmäßigkeit nicht gesondert zu prüfen ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Tatbestandswirkung der Ausweisung, Tatbestandswirkung, Ausweisung, sofortige Vollziehbarkeit, sofort vollziehbare Ausweisungsverfügung, Aufklärungspflicht,
Normen: AufenthG § 54 Nr. 5, AufenthG § 54a,
Auszüge:

[...]

Der Antrag, mit dem die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3), sowie des Verfahrensfehlers (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) in Anspruch genommen werden, hat keinen Erfolg.

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen vor, wenn unter Berücksichtigung der vom Antragsteller dargelegten Gesichtspunkte (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 10.03.2004 - 7 AV 4.03 - DVBl 2004, 838 f., B.v. 15.12.2003 - 7 AV 2.03 - NVwZ 2004, 744 f., B.v. 12.11.2002 - 7 AV 4.02 - juris, B.v. 11.11.2002 - 7 AV 3.02 - DVBl 2003, 401 f.; B.v. 14.06.2002 - 7 AV 1.02 - DVBl 2002, 1556 f.); sie sind immer schon dann begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 - juris; B.v. 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 - DVBl 2000, 1458 ff.), es sei denn, es lässt sich schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen, das Verwaltungsgericht habe die Rechtssache im Ergebnis richtig entschieden und die angestrebte Berufung werde deshalb voraussichtlich keinen Erfolg haben (vgl. BVerwG, B.v. 10.03.2004 - 7 AV 4/03 - DVBl 2004, 838), sofern nicht seinerseits die anderen Gründe wiederum auf einen anderen Zulassungsgrund hinführen würden. Zur Darlegung ernstlicher Zweifel (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) ist eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung erforderlich. Der Streitstoff muss dabei unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil gesichtet, rechtlich durchdrungen und aufbereitet werden; erforderlich ist eine fallbezogene Begründung, die dem Berufungsgericht eine Beurteilung der Zulassungsfrage ohne weitere eigene aufwendige Ermittlungen ermöglicht (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 30.06.2006 - 5 B 99.05 - juris). Das Maß der zu leistenden Substantiierung kann dabei von der jeweiligen Begründungsdichte und dem Begründungsaufwand der Entscheidung abhängig sein.

Der Kläger stellt in erster Linie die umfangreichen Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts zur Rolle der FDRL im Ostkongo und zu den dort von ihr begangenen schwersten Menschrechtsverletzungen einschließlich der eigenen Verantwortung hierfür infrage. Sollen aber ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gerade hinsichtlich einer Tatsachen- oder Beweiswürdigung - wie sie auch im vorliegenden Fall erfolgt ist - geltend gemacht werden, sind besondere Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe zu stellen (vgl. hierzu NiedersOVG, B.v.18.01.2001 - 4 L 2401/00 - juris). Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet nämlich das Verwaltungsgericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen - nicht nur des Ergebnisses einer gegebenenfalls durchgeführten förmlichen Beweisaufnahme, sondern auch des Inhalts der Akten, des Vortrags der Beteiligten, eingeholter Auskünfte usw. - frei, d.h. nur an die innere Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Argumente, an die Denkgesetze, anerkannten Erfahrungssätze und Auslegungsgrundsätze gebunden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 108 Rdn. 4 m.w.N.). Ist das Gericht unter umfassender Würdigung des Akteninhalts und der Angaben der Beteiligten (sowie gegebenenfalls des Ergebnisses einer Beweisaufnahme) zu der Überzeugung gelangt, dass entscheidungserhebliche Tatsachen vorliegen oder nicht, können ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Beweiswürdigung nicht schon durch die Darlegung von Tatsachen hervorgerufen werden, die lediglich belegen, dass auch eine inhaltlich andere Überzeugung möglich gewesen wäre oder dass das Berufungsgericht bei einer Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach Aktenlage (für die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme durch das Verwaltungsgericht fehlt dem Berufungsgericht im Zulassungsverfahren ohnehin regelmäßig der im Einzelfall wesentliche persönliche Eindruck von den Beteiligten und Zeugen) zu einem anderen Ergebnis gelangen könnte. Vielmehr bedarf es der Darlegung erheblicher Fehler bei der Tatsachen- oder Beweiswürdigung, die etwa dann vorliegen können, wenn das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, gegen Denkgesetze verstoßen oder gesetzliche Beweisregeln missachtet hat (vgl. BVerwG, U.v. 05.07.1994 - 9 C 158.94 - InfAuslR 1994, 424; VGH Bad.-Württ., B.v. 27.03.2008 - 11 S 2194/07 -).

Solche Mängel zeigt die Antragsbegründung nicht ansatzweise auf. Das Verwaltungsgericht hat sich auf eine Vielzahl von - auch sehr aktuellen - Erkenntnisquellen gestützt und ist dabei ausdrücklich davon ausgegangen, dass auch die ruandische Armee mittlerweile für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden müsse. Insoweit gehen die unter Berufung auf den neuesten Bericht der UN vom August 2010 erhobenen Einwände im Wesentlichen ins Leere. Vor diesem Hintergrund legt die Antragsbegründung auch nicht ausreichend dar, weshalb "eine Berufung allein auf Zeitungs-, UN-, HRW- oder Amnesty International-Berichte nicht ausreiche, um einen belastenden Sachverhalt hinreichend sicher festzustellen".

Ungeachtet dessen würden sich die vom Kläger aufgeworfenen Fragen im angestrebten Berufungsverfahren aus Rechtsgründen gar nicht stellen. Die Angriffe auf die Sachverhaltsfeststellungen des Verwaltungsgerichts betreffen nämlich allein die hier nicht im Streit befindliche wirksame (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) Ausweisungsverfügung vom 02.03.2006, deren sofortige Vollziehung darüber hinaus angeordnet wurde. Die sofortige Vollziehung wurde bislang jedoch nicht ausgesetzt, weil der Kläger ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren nicht angestrengt hat. Die Ausweisungsverfügung entfaltet deshalb Tatbestandswirkung für das vorliegende Verfahren (vgl. hierzu Kopp/Schenk, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 121 Rdn. 5). Sämtliche behördliche Anordnungsermächtigungen des § 54a AufenthG, welche die Funktion haben, bis zum endgültigen Vollzug die Durchsetzung der Ausweisungsverfügung abzusichern sowie deren gefahrabwehrende bzw. gefahrvorbeugende Wirkung teilweise in das Inland vorzuverlagern, setzen den wirksamen Erlass einer vollziehbaren Ausweisungsverfügung nach § 54 Nr. 5, 5a oder 5b oder einer vollziehbaren Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG voraus. Zwar sprechen die Absätze 2 bis 4 - anders als Absatz 1 - nicht ausdrücklich davon, dass die Ausweisungsverfügung bzw. die Abschiebungsanordnung sofort vollziehbar sein muss. Dieses Unterlassen beruht jedoch offensichtlich auf einem Redaktionsversehen. Denn es ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, dass die Meldepflichten nach Absatz 1 von der sofortigen Vollziehbarkeit abhängig gemacht werden sollen, nicht jedoch die weiteren flankierenden Nebenmaßnahmen. Die Vorschrift ist vielmehr so zu verstehen, dass Absatz 1 den Grundtatbestand bildet, während die folgenden Absätze auf diesem aufbauen und weitere Handlungsoptionen eröffnen. Dieses zugrunde gelegt ist für sämtliche Nebenverfahren dann davon auszugehen, dass der Betroffene vollziehbar ausgewiesen ist, weil er einen der in der jeweiligen Ausweisungsverfügung näher bezeichneten und konkretisierten Tatbestände erfüllt. Die einzelnen Regelungen des § 54a AufenthG setzen dieses voraus und machen den Erlass einer der hiernach möglichen Maßnahmen nicht von einer erneuten und eigenständigen Prüfung jeder Ausweisungsvoraussetzung abhängig, Der Betroffene wird dadurch in seiner Rechtsverteidigung in keiner Weise eingeschränkt. Denn ihm steht jederzeit die Möglichkeit offen, in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Aussetzung der sofortigen Vollziehung durchzusetzen.

Soweit der Kläger beanstandet, das Verwaltungsgericht habe den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt, so geht der Senat zugunsten des Klägers davon aus, dass im Rahmen des insoweit geltend gemachten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel auch Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, insbesondere eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht in zulässiger Weise gerügt werden können. In jedem Fall können aber Unterlassungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die dem Erfolg einer Aufklärungsrüge entgegenstehen würden, nicht unbeachtet bleiben. Denn eine Verletzung der Aufklärungspflicht kann nur dann mit Erfolg gerügt werden, wenn der Beteiligte entweder bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt hatte oder sich dem Verwaltungsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von förmlichen Beweisanträgen und weitere die Sachverhaltsermittlung anstoßenden Anträge zu kompensieren. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass ein Tatsachengericht seine Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht verletzt, wenn es von einer weiteren Sachverhaltsermittlung bzw. Beweiserhebung absieht, die eine anwaltlich vertretene Partei nicht beantragt hat, es sei denn, dem Gericht musste sich auch ohne Stellung eines Antrags die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung aufdrängen (vgl. BVerwG, B.v. 22.02.1988 - 7 B 28.88 - NVwZ 1988, 1020; B.v. 01.03.2001 - 6 B 6.01 - NVwZ 2001, 923; B.v. 25.01.2005 - 9 B 38.04 - NVwZ 2005, 447).

In diesem Zusammenhang genügt im Übrigen ein lediglich schriftsätzlich angekündigter Antrag, wie er möglicherweise in der Klagebegründung enthalten war, den genannten Anforderungen nicht (vgl. BVerwG, B.v. 06.03.1995 - 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265; B.v. 10.10.2002 - 9 BN 2.01 - NVwZ-RR 2002, 140). Mit dem Verweis auf eine förmliche Antragstellung in der mündlichen Verhandlung wird den Beteiligten in zumutbarer Weise angesonnen, ihr bisheriges Vorbringen kritisch zu sichten und nach dem aktuellen Stand der schriftsätzlichen Auseinandersetzung sowie dem Zwischenergebnis der mündlichen Verhandlung eine aktuelle Entscheidung darüber zu treffen, ob eine weitere Sachverhaltsaufklärung überhaupt noch erforderlich ist. Förmliche Beweisanträge wurden jedoch hier ausweislich des Inhalts der Niederschrift vom 09.09.2010 von dem anwaltlich vertretenen Kläger nicht gestellt; wären sie gestellt worden, hätten sie nach § 160 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 105 VwGO als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in die Niederschrift aufgenommen werden müssen (vgl. etwa BFH, B.v. 05.10.2010 - IX S 7/10 - juris). Auch eine Berichtigung der Niederschrift nach § 164 ZPO ist bislang nicht erfolgt (vgl. zur Beweiskraft der Niederschrift § 165 ZPO).

Die Begründung des Zulassungsantrags lässt auch jeden Hinweis darauf vermissen, weshalb sich dem Verwaltungsgericht angesichts der vielfältigen verwerteten Erkenntnismittel eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen sollen. [...]