VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 11.05.2010 - 1 K 42/10.TR - asyl.net: M17967
https://www.asyl.net/rsdb/M17967
Leitsatz:

Aufhebung eines sog. Dublin-Bescheids, mit welchem die Abschiebung nach Griechenland angeordnet wurde. Hinsichtlich des Selbsteintritts ist für das BAMF das Ermessen auf Null reduziert, da der Kläger im Falle einer Abschiebung in Griechenland nicht in der Lage wäre, ein Asylverfahren unter Wahrung allgemeiner und richtlinienkonformer Mindeststandards zu durchlaufen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Anfechtungsklage, Selbsteintritt, Ermessensreduzierung auf Null, Ermessen, Konzept der normativen Vergewisserung,
Normen: VwGO § 42 Abs. 1, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2010 getroffene Entscheidung, dass der Asylantrag des Klägers gemäß § 27a AsylVfG unzulässig ist, ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthaft (a.A. VG Osnabrück, Urteil vom 19. April 2010 - 5 A 30/10 -). Im Falle der Aufhebung einer solchen Entscheidung ist der Weg für die Durchführung eines Asylverfahrens vor dem Bundesamt mit voller inhaltlicher Sachprüfung des klägerischen Asylbegehrens eröffnet. Vergleichbar den Fällen einer Einstellung des Asylverfahrens nach § 32 AsylVfG sowie der gerichtlichen Entscheidung bei einer fiktiven Antragsrücknahme nach § 33 AsylVfG ist im Anschluss an die hierzu ergangene einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 7. März 1995 - 9 C 264/94 -) auch bei einer Entscheidung nach § 27a AsylVfG die Verpflichtungsklage mit dem Ziel einer Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz - GG - bzw. der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht als vorrangig anzusehen. Im Falle des Durchentscheidens des Verwaltungsgerichts durch Verpflichtungsurteil würde dem Kläger eine Tatsacheninstanz, und zwar die auf inhaltliche Überprüfung seines Asylbegehrens durch das Bundesamt, genommen (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 29. September 2009 -7 K 269/09.F.A -, VG Mainz, Urteil vom 15. Januar 2010 - 4 K 1132/08.MZ -).

Die so zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2010 ist nach dem Sach- und Streitstand, wie er sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung darstellt (§ 77 AsylVfG), rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Das Bundesamt hat zu Unrecht den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und seine Abschiebung nach Griechenland angeordnet. Vielmehr hätte das Bundesamt im Falle des Klägers von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO Gebrauch machen müssen.

Nach Art. 3 Abs. 2 S. 1 Dublin-II-VO kann jeder Mitgliedsstaats abweichend von den Zuständigkeitskriterien des Kapitels III der Verordnung einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der das Selbsteintrittsrecht wahrnehmende Mitgliedsstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne der Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehende Verpflichtung (Satz 2). Die Bestimmung verbürgt zumindest ein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 29. September 2009, a.a.O., m.w.N., VG Mainz, Urteil vom 15. Januar 2010, a.a.O., m.w.N.).

Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen für einen Selbsteintritt der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO im Sinne einer Ermessensreduzierung auf Null vor.

Zwar hat der Kläger keine Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geltend gemacht, die allein ihn betreffen. Die Kammer geht jedoch aufgrund der vorliegenden und im Verfahren eingeführten bzw. der Beklagten bekannten Erkenntnisse davon aus, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Griechenland nicht in der Lage wäre, ein Asylverfahren unter Wahrung allgemeiner und richtlinienkonformer Mindeststandards zu durchlaufen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass in der griechischen Verwaltungspraxis das Asylverfahren betreffend sowohl in der Vergangenheit als auch gegenwärtig Asylbewerbern vielfache Hindernisse beim Zugang in den Weg gestellt worden sind bzw. werden. Dublin-Rückkehrer werden zudem bei der Unterkunftssuche nicht bevorzugt behandelt, bleiben deshalb obdachlos und sind gar nicht in der Lage, eine Adresse zu registrieren. Ohne Registrierung eines Wohnsitzes droht die öffentliche Zustellung einer (zumeist ablehnenden) Entscheidung, von der in der Regel nicht innerhalb der Rechtsmittelfrist Kenntnis erlangt wird. Die Deckung der materiellen Grundbedürfnisse für Asylsuchende in Griechenland ist nicht gewährleistet, die vorgesehenen Tagegelder sind bisher noch nicht ausgezahlt und der Zugang zum Gesundheitssystem ist nicht immer möglich (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 29. Juni 2009, a.a.O., VG Mainz, Urteil vom 15. Januar 2010, a.a.O., VG Sigmaringen, Urteil vom 26. Oktober 2009 - A 1 K 1757/09 -).

Die Prüfung der Verhältnisse in Griechenland ist trotz Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG und des darin zum Ausdruck kommenden Konzepts der normativen Vergewisserung möglich. Zwar gilt Griechenland Kraft Verfassung als sicherer Drittstaat. Art. 16a Abs. 2 GG und die Erklärung Griechenlands zum sicheren Drittstaat wurden vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 14. Mai 1996 (2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93; BVerfGE 94, 49) zwar nicht für verfassungswidrig gehalten, obwohl eine Harmonisierung damals "noch in den Anfängen" stand. Dem Konzept der normativen Vergewisserung sind jedoch Grenzen gesetzt, die auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt hat. In seiner einstweiligen Anordnung vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09) hält das Bundesverfassungsgericht Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung bezogen auf Staaten, die Kraft Verfassung sichere Drittstaaten sind, für möglich. Die Missstände in Griechenland haben nach Auffassung der Kammer ein Ausmaß erreicht, das eine Reaktion des Gemeinschaftsgesetzgebers nach sich ziehen muss. Die tatsächliche Situation wird nicht zuletzt durch die momentane finanzielle Krise in Griechenland weiter verschärft.

Die Situation ist daher mit der vom Bundesverfassungsgericht als Ausnahme umschriebenen vergleichbar, dass eine schlagartige (oder jedenfalls massive) Änderung der Situation eingetreten ist und eine beabsichtigte Änderung der Rechtslage von den zuständigen Organen noch nicht umgesetzt worden ist (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 26. Oktober 2009, a.a.O.).

Die Beklagte ist daher aufgrund der Ausnahmesituation, in der der Kläger in Bezug auf seine Verfahrensrechte und die Aufnahmebedingungen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in Griechenland ausgesetzt wäre, infolge der vom Gericht tenorierten Aufhebung des angefochtenen Bescheides verpflichtet, ein Asylverfahren für den Kläger im Bundesgebiet durchzuführen. [...]