VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 24.11.2010 - 7 B 2039/10 - asyl.net: M17946
https://www.asyl.net/rsdb/M17946
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz für dreijähriges Kind und damit auch für die Mutter, vermittelt über den geschiedenen Kindsvater, der eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die erforderliche familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne einer tatsächlich gelebten Verbundenheit zwischen Vater und Kind besteht, die in eigenständigen Erziehungs- und Betreuungsleistungen des Vaters zum Ausdruck kommt.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, minderjährig, Eltern-Kind-Verhältnis, Sorgerecht, familiäre Lebensgemeinschaft, Unmöglichkeit der Ausreise, Abschiebungsandrohung, vollziehbar ausreisepflichtig, Vollziehbarkeit
Normen: VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 84 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 50 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 34 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufgenthG § 59, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Anträge nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alternative VwGO, deren Ziel die Hemmung der Vollziehung der durch die Versagung von Aufenthaltserlaubnissen vollziehbar gewordenen Ausreisepflicht der Antragsteller ist (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG, §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), sind zulässig und begründet. Im Hinblick auf die von den Antragstellern dargelegten Gründe, die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Prüfung des Beschwerdegerichts grundsätzlich bestimmen, ist es überwiegend wahrscheinlich, dass Ansprüche der Antragsteller auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis bestehen.

Für den am 14. Juli 2007 in Serbien geborenen Antragsteller, dem am 5. März 2008 eine bis zum 4. März 2009 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erteilt worden war, ergibt sich ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus § 34 Abs. 1, 1. Alternative AufenthG.

Nach § 34 Abs. 1 AufenthG, der als spezielle Verlängerungsregelung der allgemeinen Vorschrift des § 8 Abs. 1 AufenthG vorgeht (vgl. nur Nr. 8.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 [GMBl. S. 878]), ist die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Erfordernis des ausreichenden Wohnraums) zu verlängern, solange ein personenberechtigter Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt und das Kind mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft lebt oder das Kind im Fall seiner Ausreise ein Wiederkehrrecht gemäß § 37 AufenthG hätte.

Die Voraussetzungen der 1. Alternative des § 34 Abs. 1 AufenthG liegen nach der dem Beschwerdegericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung ersichtlichen Sachlage vor. Insbesondere ist der Vater des Antragstellers hiernach seit dem Jahr 2000 Inhaber einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (Niederlassungserlaubnis) und aufgrund des Beschlusses des Familiengerichts Frankfurt am Main vom 8. September 2010 - 456 F 5248/10 SO - gemeinsam mit der Antragstellerin (personen-)sorgeberechtigt. Auch das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft im Sinne einer tatsächlich gelebten Verbundenheit zwischen dem Antragsteller und seinem von der Antragstellerin geschiedenen Vater, die in eigenständigen Erziehungs- und Betreuungsleistungen des Vaters zum Ausdruck kommt, ist nach dem Beschwerdevorbringen sowie der familientherapeutischen Stellungnahme des Evangelischen Zentrums für Beratung und Therapie am weißen Stein vom 27. September 2010 überwiegend wahrscheinlich (vgl. allgemein zum maßgeblichen Begriff der familiären Lebensgemeinschaft: GK-AufenthG, § 60a Rdnr. 153 - 164.1 [Stand: Mai 2010]).

Für die Antragstellerin ergibt sich ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der für den Erfolg ihres Eilantrags erforderlichen Wahrscheinlichkeit zumindest aus § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen ihrer familiären Lebensgemeinschaft mit dem ein Aufenthaltsrecht in Deutschland habenden dreijährigen Antragsteller Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stehen einer Trennung der Antragstellerin von ihrem Sohn - dem Antragsteller - entgegen und begründen eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise der Antragstellerin im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Ein die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift einschließendes Gesuch hat die Antragstellerin mit ihren Anträgen vom 30. Januar 2009 und vom 27. April 2009 bei der Ausländerbehörde angebracht.

Die Aussetzungsanträge nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alternative VwGO gegen die in den Bescheiden vom 29. Juni 2010 gleichfalls verfügten Abschiebungsandrohungen, die nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 16 Satz 1 HessAGVwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbar sind, bleiben dagegen ohne Erfolg. Die zulässigen Anträge sind unbegründet, da die nach § 59 AufenthG zu beurteilenden Abschiebungsandrohungen rechtmäßig sind. Die für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohungen erforderlichen Ausreisepflichten der Antragsteller sind gemäß §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 1, 81 Abs. 4 AufenthG durch die Ablehnung der Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen in den Bescheiden der Antragsgegnerin vom 29. Juni 2010 entstanden und werden durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen diese Ablehnung nicht berührt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Vollziehbarkeit der Ausreisepflichten, die gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG infolge der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung rückwirkend entfallen ist, ist keine Voraussetzung des Erlasses der Abschiebungsandrohungen, sondern gemäß § 58 Abs. 1 AufenthG erst der Abschiebung selbst (st. Rspr. des Senats, vgl. Beschlüsse vom 12. Juli 2010 - 7 B 1164/10 - und vom 24. September 2010 - 7 B 1767/10 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Februar 2009 - 18 A 2620/08 - InfAuslR 2009, 233; GK-AufenthG, § 59 Rdnr. 25 - 33 [Stand: August 2010]). Rechtsschutzdefizite für die Antragsteller entstehen hierdurch nicht, namentlich ist die ihnen gesetzte Ausreisefrist nach § 50 Abs. 3 AufenthG durch das Entfallen der Vollziehbarkeit ihrer Ausreisepflichten unterbrochen worden. [...]