EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Toprak und Oguz, C-300/09 und C-301/09 - asyl.net: M17944
https://www.asyl.net/rsdb/M17944
Leitsatz:

Zum maßgeblichen Zeitpunkt eines Verstoßes gegen die Standstillklausel (Aufenthaltsrecht für türkische Staatsangehörige nach ARB 1/80): Zu entscheiden war über Vorlagefragen des niederländischen Raad van State. Darin ging es um die Frage des eigenständigen Aufenthaltsrechts für Ehegatten. Dieses setzte am 1.12.1980 in den Niederlanden voraus, dass der Ausländer sich mindestens drei Jahre verheiratet und legal im Lande aufhielt. 1982 wurde die Frist auf ein Jahr gesenkt, 2001 wurden die alten Bestimmungen wieder eingeführt.

Der EuGH stellt fest, dass auch Rechtsänderungen, die eine Verschärfung unmittelbar zuvor geltenden Rechts bedeuten, jedoch nicht gegenüber dem Rechtszustand im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 am 1.12.1980 (Standstillklausel des Art. 13 ARB 1/80), eine unzulässige "neue Beschränkung" sein können.

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Vorabentscheidungsverfahren, EuGH, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsrecht, Niederlande, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Türkischer Arbeitnehmer, Erlasslage, Stillhalteklausel, Beurteilungszeitpunkt, Anwendungszeitpunkt, Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, freizügigkeitsberechtigt
Normen: EG Art. 234, ARB 1/80 Art. 13, ZP Art. 41 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Zur Vorlagefrage

Vorbemerkung

30 Zunächst ist festzustellen, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht nur auf Bestimmungen in einer Gesetzes- oder Verordnungsvorschrift, sondern auch auf Bestimmungen in einer Rundverfügung angewandt werden kann, in der die betreffende Regierung darlegt, wie sie das Recht anwenden will.

31 Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 bezieht sich auf die von den Mitgliedstaaten eingeführten Beschränkungen, ohne anzugeben, durch welche Art Rechtsakt solche Beschränkungen eingeführt werden.

32 Im Urteil vom 10. April 2008, Kommission/Niederlande (C-398/06), hat der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit einer Ausländerrundverfügung im Hinblick auf das abgeleitete Unionsrecht über die Freizügigkeit geprüft, die den in den Ausgangsverfahren umstrittenen Rundverfügungen vergleichbar war. Er hat befunden, dass die Rundverfügung gegen dieses Recht verstieß.

33 Es steht fest, dass die Rundverfügung von 1982 und die Rundverfügung von 2000 wie die in der Rechtssache Kommission/Niederlande streitige Rundverfügung Auswirkungen auf die betroffenen Ausländer einschließlich der türkischen Staatsangehörigen haben. 34 Folglich kann Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die Bestimmungen solcher Rundverfügungen Anwendung finden. [...]

42 Den Akten zufolge hat sich die Rechtslage türkischer Arbeitnehmer, deren Ehegatte ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in den Niederlanden besitzt, insbesondere niederländischer Staatsangehöriger ist, in Bezug auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab dem 1. April 2001 geändert. Im Gegensatz zu der Rechtslage, die seit dem 1. Februar 1983 gegolten hat, gilt für diese Arbeitnehmer seit diesem Zeitpunkt wieder die Bedingung eines dreijährigen Aufenthalts bei ihrem Ehegatten in den Niederlanden.

43 Der Gerichtshof hat sich bereits im Hinblick auf die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltenen Stillhalteklauseln zu den Änderungen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an türkische Staatsangehörige geäußert. Danach stellt die Einführung einer Visumspflicht für die Ausübung bestimmter Dienstleistungen in Deutschland, die vor Inkrafttreten des Zusatzprotokolls nicht gegolten hat, eine "neue Beschränkung" im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dar (Urteil vom 19. Februar 2009, Soysal und Savatli, C-228/06, Slg. 2009, I-1031, Randnr. 57). Auch die Einführung von Gebühren für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, deren Höhe im Vergleich zu den von Gemeinschaftsangehörigen unter gleichartigen Umständen verlangten Gebühren unverhältnismäßig ist, beinhaltet eine gemäß Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verbotene Beschränkung (Urteil vom 17. September 2009, Sahin, C-242/06, Slg. 2009, I-8465, Randnr. 74).

44 In den vorliegenden Rechtssachen hat die in den Ausgangsverfahren umstrittene niederländische Regelung ebenfalls Änderungen der Anforderungen für die Erteilung bestimmter Aufenthaltserlaubnisse zur Folge. Sofern diese Änderungen die Rechtslage von türkischen Arbeitnehmern wie Herrn Toprak und Herrn Oguz betreffen, fällt diese Regelung unter Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80.

45 Der Anwendung von Art. 13 dieses Beschlusses steht in keiner Weise entgegen, dass die betreffenden Arbeitnehmer nicht bereits in den Arbeitsmarkt der Niederlande integriert sind, also die Voraussetzungen gemäß Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht erfüllen. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dazu dient, die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen, sondern gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten soll, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses genießen (vgl. Urteile vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a., C-317/01 und C-369/01, Slg. 2003, I-12301, Randnr. 83, und vom 29. April 2010, Kommission/Niederlande, C-92/07, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 45).

46 Folglich ist das Vorbringen der niederländischen Regierung zurückzuweisen, Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 sei nicht auf die in den Ausgangsverfahren streitige Regelung anwendbar, da diese nicht in dieser Vorschrift vorgesehene Bedingungen für den Zugang türkischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt, sondern Rechte ausländischer Ehegatten in Bezug auf Familienzusammenführung betreffe.

47 Es ist daher der Bezugszeitpunkt für die Beurteilung, ob eine "neue Beschränkung" im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vorliegt, zu prüfen.

48 Die niederländische, die dänische und die deutsche Regierung vertreten die Auffassung, für die Bewertung, ob ein Gesetz oder eine besondere Politik die Rechtslage türkischer Arbeitnehmer erschwere, sei ausschließlich der 1. Dezember 1980 maßgebend. Jede spätere Änderung, die diese Arbeitnehmer weiter begünstige, sei unbeachtlich.

49 Da der Wortlaut von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 keinen bestimmten Zeitpunkt angibt, ab dem die Stillhalteklausel gilt, kann das Vorliegen "neuer Beschränkungen" im Sinne dieser Vorschrift nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmungen beurteilt werden, in deren Zusammenhang sie steht, im vorliegenden Fall dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80. Der Gerichtshof hat bereits mehrfach auf diesen Ausgangspunkt abgestellt. So hat der Gerichtshof in Randnr. 49 des Urteils vom 29. April 2010, Kommission/Niederlande, befunden, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 von dem Zeitpunkt an, zu dem dieser Beschluss in den Niederlanden in Kraft getreten ist, der Einführung neuer Beschränkungen der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in das niederländische Recht entgegensteht (vgl. auch u. a. Urteile Abatay u. a., Randnr. 74, und Sahin, Randnr. 63, sowie entsprechend im Hinblick auf die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel Urteile Abatay u. a., Randnr. 66, sowie Soysal und Savatli, Randnr. 47).

50 Das heißt jedoch nicht, dass nur dieser Zeitpunkt maßgebend ist.

51 Um die Tragweite des Begriffs "neue Beschränkungen" zu bestimmen, ist auf das mit Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verfolgte Ziel abzustellen.

52 In Randnr. 72 des Urteils Abatay u. a. hat der Gerichtshof befunden, dass die Stillhalteklauseln in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dasselbe Ziel verfolgen, nämlich dadurch günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs zu schaffen, dass den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für diese Freiheiten einzuführen, um die schrittweise Herstellung dieser Freiheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Republik Türkei nicht zu erschweren.

53 Im Urteil vom 20. September 2007, Tum und Dari (C-16/05, Slg. 2007, I-7415, Randnr. 61), hat der Gerichtshof hinzugefügt, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darauf gerichtet ist, günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit zu schaffen, indem diese Vorschrift den innerstaatlichen Stellen das absolute Verbot auferlegt, durch eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen neue Hindernisse für die Ausübung dieser Freiheit einzuführen.

54 Die übereinstimmende Auslegung der von Art. 41 des Zusatzprotokolls und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verfolgten Ziele führt zu der Feststellung, dass sich die Tragweite der Stillhalteverpflichtung gemäß Art. 13 dieses Beschlusses entsprechend auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit erstreckt, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen.

55 Es muss daher auch gewährleistet sein, dass sich die Mitgliedstaaten nicht von dem verfolgten Ziel entfernen, wenn sie Bestimmungen ändern, die sie in ihrem Gebiet nach Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 zugunsten der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer erlassen haben.

56 In Fällen wie den Ausgangsverfahren ist deshalb der Bezugszeitpunkt für die Beurteilung, ob die Einführung neuer Regeln zu "neuen Beschränkungen" führt, der Zeitpunkt des Erlasses solcher Bestimmungen.

57 Diese Auslegung folgt der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Stillhalteklauseln in anderen Bereichen des Unionsrechts, insbesondere beim Recht auf Vorsteuerabzug gemäß der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) und im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit.

58 Zur Mehrwertsteuer hat der Gerichtshof befunden, dass eine nationale Regelung gegen die Stillhalteklausel gemäß Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie verstößt, wenn sie nach dem Inkrafttreten dieser Richtlinie die bestehenden Ausschlusstatbestände erweitert und sich damit vom Ziel dieser Richtlinie entfernt. Dies gilt für jede Änderung nach dem Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie, die die unmittelbar vor dieser Änderung geltenden Ausschlusstatbestände erweitert. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Änderung nicht die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Sechsten Richtlinie geltenden Ausschlusstatbestände ausgeweitet hat (vgl. Urteil vom 14. Juni 2001, Kommission/Frankreich, C-40/00, Slg. 2001, I-4539, Randnrn. 17 bis 19).

59 Der Gerichtshof hat sich entsprechend zu der in Art. 57 Abs. 1 EG vorgesehenen Ausnahme im Bereich der Kapitalverkehrsfreiheit geäußert, nach der Beschränkungen für Kapitalbewegungen nach oder aus dritten Ländern, die in der nationalen Rechtsordnung am 31. Dezember 1993 bestanden, aufrechterhalten werden dürfen. Der Begriff der zu diesem Zeitpunkt, d. h. am 31. Dezember 1993, bestehenden Beschränkung setzt voraus, dass der rechtliche Rahmen, in den sich die betreffende Beschränkung einfügt, seit diesem Datum ununterbrochen Teil der nationalen Rechtsordnung gewesen ist. Wäre dies anders, könnte ein Mitgliedstaat nämlich jederzeit Beschränkungen für Kapitalbewegungen nach oder aus dritten Ländern wieder einführen, die in der nationalen Rechtsordnung am 31. Dezember 1993 bestanden, die aber nicht aufrechterhalten worden sind. Folglich betrifft die Ausnahme keine Bestimmung, durch die ein Hindernis, das nach der Aufhebung der früheren Regelung nicht mehr bestanden hat, wieder eingeführt worden ist (Urteil vom 18. Dezember 2007, A, C-101/05, Slg. 2007, I-11531, Randnrn. 48 und 49).

60 Es ist daher festzustellen, dass ein Mitgliedstaat dadurch, dass er Bestimmungen erlassen hat, die die für die türkischen Arbeitnehmer geltenden Bedingungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Vergleich zu den Bedingungen verschärfen, die für sie zuvor unter der nach Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in dem betreffenden Hoheitsgebiet geltenden Regelung anwendbar waren, "neue Beschränkungen" im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses einführt.

61 Unter Umständen wie in den Ausgangsverfahren hat das nationale Gericht zu prüfen, ob die Rundverfügung 2000 die Erlangung einer eigenen Aufenthaltserlaubnis für türkische Arbeitnehmer im Vergleich zur Rundverfügung von 1982 erschwert und Herr Toprak und Herr Oguz die in der Rundverfügung von 1982 vorgesehenen Anforderungen erfüllt haben. Sollte es gemäß der Rundverfügung 2000 schwieriger sein, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, handelt es sich bei der Rundverfügung um eine "neue Beschränkung" im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, auch wenn sie nur die Bestimmungen wieder einführt, die am 1. Dezember 1980 im niederländischen Recht gegolten haben.

62 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass unter den Umständen der Ausgangsverfahren, die eine nationale Bestimmung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an türkische Arbeitnehmer betreffen, Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine Verschärfung einer nach dem 1. Dezember 1980 eingeführten Bestimmung, die eine Erleichterung der am 1. Dezember 1980 geltenden Bestimmung vorsah, eine "neue Beschränkung" im Sinne dieser Vorschrift darstellt, auch wenn diese Verschärfung nicht die Bedingungen für die Erteilung der Erlaubnis im Vergleich zu den sich aus der am 1. Dezember 1980 geltenden Bestimmung ergebenden Bedingungen verschlechtert; es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob dies der Fall ist. [...]

Unter den Umständen der Ausgangsverfahren, die eine nationale Bestimmung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an türkische Arbeitnehmer betreffen, ist Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des mit dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation dahin auszulegen, dass eine Verschärfung einer nach dem 1. Dezember 1980 eingeführten Bestimmung, die eine Erleichterung der am 1. Dezember 1980 geltenden Bestimmung vorsah, eine "neue Beschränkung" im Sinne dieser Vorschrift darstellt, auch wenn diese Verschärfung nicht die Bedingungen für die Erteilung der Erlaubnis im Vergleich zu den sich aus der am 1. Dezember 1980 geltenden Bestimmung ergebenden Bedingungen verschlechtert; es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob dies der Fall ist.