VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 24.11.2010 - 1 A 5261/08 [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 23 f.] - asyl.net: M17930
https://www.asyl.net/rsdb/M17930
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG: Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige müssen in der Türkei mit lebenslanger Strafverfolgung rechnen. Hierbei handelt es sich um eine erniedrigende und entwürdigende Bestrafung (Art. 3 EMRK), die völlig außer Verhältnis zu ihrem Zweck steht (mit Bezug auf EGMR, Urteil vom 24.1.2006, Ülke ./. Türkei, Nr. 39437/98).

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Türkei, Militärdienst, Verweigerung, erniedrigende Behandlung, Fahnenflucht, EGMR, Haftbefehl, Weigerungsrecht
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Der Kläger kann sich mit Erfolg auf § 60 Abs. 5 AufenthG berufen. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch Art. 3 EMRK verbotene erniedrigende Strafe, wenn er in die Türkei zurückkehrt und dort weiter den Militärdienst verweigert, sich also dem Vorwurf der Fahnenflucht aussetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit Urteil vom 24. Januar 2006 in der Sache Ülke ./. Türkei (Nr. 39437/98, al. 60/61) eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen und jenem türkischen Wehrpflichtigen eine Entschädigung von 10.000,- EUR zugesprochen. Diesem Urteil lag zu Grunde, dass der türkische Staatsbürger fortgesetzt den Wehrdienst verweigert hatte und aus diesem Grunde zehnmal strafgerichtlich verurteilt worden war. Er befand sich bereits rund 700 Tage in Haft und wurde weiterhin zum Zweck der Ableistung weiterer Strafhaft von den Sicherheitskräften gesucht. Der EGMR sah in der Tatsache, dass ein dauerhaft den Wehrdienst verweigernder türkischer Staatsangehöriger mit der Möglichkeit einer lebenslangen Strafverfolgung rechnen müsse, eine erniedrigende und entwürdigende Bestrafung, die völlig außer Verhältnis zu ihrem Zweck stehe, die Ableistung des Militärdienstes sicherzustellen. Die Europäische Kommission forderte hierauf von der Türkei die Verabschiedung eines Gesetzes, das eine wiederholte Verfolgung und Bestrafung derjenigen verhindern solle, die die Ableistung des Militärdienstes aus Gewissens- oder aus religiösen Gründen verweigerten (siehe dazu den "Fortschrittsbericht" der Europäischen Kommission vom 6. November 2007). In einem Treffen im Juni 2007 erklärte die türkische Regierung gegenüber dem Ministerausschuss des Europarates, dass ein solcher Gesetzentwurf vorbereitet werde. Dieser ist allerdings bis heute noch nicht verabschiedet. Das bestätigt auch die eingeholte Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 27. Mai 2010, S. 1. Danach hat ein türkischer Staatsangehöriger im Wiederholungsfall der Wehrdienstverweigerung mit neuen Strafverfahren und Bestrafungen zu rechnen. Zu derselben Einschätzung gelangt auch amnesty International in der Urgent Action vom 12. August 2010 (Index: EUR 44/018/2010). Der darin geschilderte Fall betrifft einen Fahnenflüchtigen, der seit 2001 in mindestens drei Verfahren für schuldig befunden worden war, noch eine Freiheitsstrafe von 35 Monaten zu verbüßen hat und nun erneut verhaftet worden war.

Die den Fall des Klägers kennzeichnenden Umstände sind mit den geschilderten Fällen vergleichbar. So ist der Kläger - wie sich aus den Angaben im Tatbestand sowie den Bestätigungen in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Mai 2010 unter 4. ergibt - bereits mehrfach wegen Fahnenflucht verurteilt worden. Nach ihm wird darüber hinaus auch heute noch von der Wehrbehörde Giresun wegen Fahneflucht gefahndet. Es besteht auch ein Haftbefehl der Militärstaatsanwaltschaft. Da die Türkei das angekündigte Gesetz noch nicht erlassen hat und damit weiterhin Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige einer fortdauernden Strafverfolgung ausgesetzt sind, ist damit zu rechnen, dass auch der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei erneut bestraft wird. Das erfüllt nach der o.g. Rechtsprechung des EMRK den Tatbestand einer erniedrigenden Strafe.

Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass der Kläger wegen seiner Drogenabhängigkeit oder seiner psychischen Erkrankung keiner erneuten Heranziehung zur Ableistung des restlichen Wehrdienstes mehr unterliegt. Denn erstens ist dieser Umstand ungewiss. Zweitens muss der Kläger schon wegen seines bisherigen Verhaltens mit einer erniedrigenden Bestrafung rechnen, wie sich aus der noch aktuellen Fahndung durch die Wehrbehörde Giresun sowie des bestehenden Haftbefehls ergibt. [...]