OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 01.12.2010 - 1 B 310/10 - asyl.net: M17920
https://www.asyl.net/rsdb/M17920
Leitsatz:

Der Erlass des IM Bremen vom 17.9.2010 soll offenbar dazu dienen, die rechtlichen Anforderungen umzusetzen, die sich aufenthaltsrechtlich aus Art. 8 EMRK ergeben. Ob die in dem Erlass genannten Kriterien in jeder Hinsicht den aus Art. 8 EMRK resultierenden Vorgaben genügen, mag hier dahinstehen (zur Unzulässigkeit einer schematischen Betrachtungsweise etwa in Bezug auf Schulabschluss und Berufsausbildung vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.1.2010 [asyl.net, M17054]). Im vorliegenden Fall ist es den Kindern aufgrund ihres Alters zumutbar, zusammen mit ihren ausreisepflichtigen Eltern in die Türkei auszureisen.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Achtung des Privatlebens, tatsächlicher Schulbesuch, Abänderungsantrag, vorläufiger Rechtsschutz, Verhältnismäßigkeit, Verwurzelung, minderjährig
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8, VwGO § 80 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, die in dem vorangegangenen Eilverfahren ergangenen Entscheidungen (Beschlüsse des VG vom 24.06.2010 und des OVG vom 17.08.2010) abzuändern. Diese Beschlüsse sind im Verfahren nach § 123 VwGO ergangen. Die Voraussetzungen, unter denen sie abgeändert werden können, ergeben sich aus § 80 Abs. 7 VwGO, der entsprechend anzuwenden ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 12. Auflage, 2006, § 123 Rn. 72). Dabei ist das Oberverwaltungsgericht als Beschwerdegericht auf die Prüfung beschränkt, ob das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO verkannt hat (vgl. Jörg Schmidt in: Eyermann, a. a. O., § 80 Rn. 108a).

Das ist hier nicht der Fall. Entgegen der Ansicht des Antragstellers haben sich die Umstände nicht nachträglich zu seinen Gunsten verändert. Der Antragsteller hat auch keine Umstände vorgetragen, die er im ursprünglichen Verfahren unverschuldet nicht geltend machen konnte.

1. Der Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 17.09.2010 hat die maßgebliche Sach- und Rechtslage nicht nachträglich zu Gunsten des Antragstellers verändert.

Dieser Erlass soll offenbar dazu dienen, die rechtlichen Anforderungen umzusetzen, die sich aufenthaltsrechtlich aus Art. 8 EMRK ergeben. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann die behördlich veranlasste Aufenthaltsbeendigung eines in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Ausländers den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK berühren. Die Aufenthaltsbeendigung ist in diesen Fällen nur zulässig, wenn sie verhältnismäßig i.S.v. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind das Ausmaß der Verwurzelung des hier aufgewachsenen Ausländers bzw. die für ihn mit der "Entwurzelung" verbundenen Folgen zu ermitteln und zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen (vgl. BVerwG, U. v. 27.01.2009 - 1 C 40/07 - BVerwGE 133, 73; B. v. 19.01.2010 - 1 B 25/09 - NVwZ 2010, 707). Das Oberverwaltungsgericht folgt diesem Prüfungsmaßstab in ständiger Rechtsprechung. Erweist sich die Aufenthaltsbeendigung danach als unverhältnismäßig, ist dem Ausländer die Ausreise aus Rechtsgründen nicht zuzumuten, d.h. die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG sind erfüllt (vgl. zuletzt OVG Bremen, Beschlüsse vom 22.11.2010 in den Verfahren 1 A 383/09 und 1 B 154/10).

Der Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 17.09.2010 benennt einige der Kriterien, die danach für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit relevant sein können. Er stellt überdies klar, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die in Deutschland entstandenen persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bindungen des betreffenden Ausländers mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, konkret und fallbezogen abzuwägen sind.

Ob die in dem Erlass genannten Kriterien in jeder Hinsicht den aus Art. 8 EMRK resultierenden Vorgaben genügen, mag hier dahinstehen (zur Unzulässigkeit einer schematischen Betrachtungsweise etwa in Bezug auf Schulabschluss und Berufsausbildung vgl. BVerwG, B. v. 19.01.2010, a.a.O.). Im Falle des Antragstellers ist nämlich ausschlaggebend, dass die gebotene Prüfung der Verhältnismäßigkeit, und zwar sowohl bezogen auf ihn selbst als auch auf seine Kinder, bereits erfolgt ist. Diese Prüfung war Gegenstand des vorangegangenen Eilverfahrens. Der Antragsteller hat sein Begehren dort ausdrücklich auf § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK gestützt, sowohl in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 24.06.2010 als auch in dem des Oberverwaltungsgerichts vom 17.08.2010 erfolgt diesbezüglich eine eingehende Prüfung.

Nachträglich eingetretene oder seinerzeit unverschuldet nicht geltend gemachte Umstände, die geeignet sein könnten, das Ergebnis dieser Prüfung in Frage zu stellen, zeigt die Beschwerde nicht auf.

2. Die jetzt vorgelegten Bescheinigungen, die sich auf den Kindergarten- und Schulbesuch von vier der sechs Kinder des Antragstellers beziehen (4, 8, 10 und 11 Jahre alt), rechtfertigen ebenfalls nicht die Abänderung der ergangenen Beschlüsse. Der Aufenthalt der Kinder, deren türkische Staatsangehörigkeit unstrittig ist, wird von der Antragsgegnerin geduldet, weil sie noch nicht im türkischen Personenstandsregister nachregistriert worden sind.

Der Antragsteller muss sich bereits entgegenhalten lassen, dass in diesen Bescheinigungen keine nachträglich eingetretenen oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachten Umstände genannt werden, so dass eine Abänderung schon aus formellen Gründen nicht in Betracht kommt. Unabhängig hiervon bieten diese Bescheinigungen aber auch inhaltlich keinen Anlass, in eine Neubeurteilung einzutreten. Im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 17.08.2010 wird näher ausgeführt, dass es den Kindern aufgrund ihres Alters zumutbar ist, zusammen mit ihren ausreisepflichtigen Eltern zur Aufrechterhaltung der Familieneinheit in die Türkei auszureisen. Die Bescheinigungen zeigen Gesichtspunkte, die diese Beurteilung in Zweifel ziehen könnten, nicht auf. Aufgrund ihres Alters können die Kinder insbesondere noch nicht als aus dem Familienverbund herausgewachsen angesehen werden.

Insofern haben die Kindeseltern es auch in der Hand, die Belastungen, die aus der Abschiebung des Antragstellers für die Familie resultieren (vgl. dazu die vorgelegte ärztliche Bescheinigung vom 30.11.2010), zu mindern. [...]