VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 07.07.2010 - 16 K 6522/09.A - asyl.net: M17907
https://www.asyl.net/rsdb/M17907
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Verfolgungsgefahr für zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Konvertiten, religiöse Verfolgung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 5, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b, AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Beruft sich der Schutzsuchende auf eine Verfolgungsgefährdung mit der Begründung, er sei in Deutschland zu einer in seinem Herkunftsland bekämpften Religion übergetreten, muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zur Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht. Erst wenn der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden in dieser Weise prägt, kann ihm nicht angesonnen werden, in seinem Heimatland auf die von Art. 10 Abs. 1 lit. b Qualifikations-Richtlinie garantierten Rechte zu verzichten, nur um Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Juli 2009, a.a.O. m.w.N.).

Hat er eine christliche Religion angenommen, genügt es im Regelfall nicht, dass der Schutzsuchende lediglich formal zum Christentum übergetreten ist, indem er getauft wurde. Von einem Erwachsenen, der sich zum Bekenntniswechsel entschlossen hat, darf im Regelfall erwartet werden, dass er mit den wesentlichen Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist. Überdies wird regelmäßig nur dann anzunehmen sein, dass der Konvertit ernstlich gewillt ist, seine christliche Religion auch in seinem Heimatstaat auszuüben, wenn er seine Lebensführung bereits in Deutschland dauerhaft an den grundlegenden Geboten der neu angenommenen Konfession ausgerichtet hat.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ergibt die dem erkennenden Gericht zum Irak vorliegende Erkenntnislage hinsichtlich der Verfolgungsgefährdung bei Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben folgendes Bild:

Ob die Konversion eines Muslims zum Christentum unter Strafe steht, lässt sich nicht abschließend beantworten. Nach Angaben des UNHCR existiert bislang weder im Zivil- noch Strafrecht eine Bestimmung, die den Übertritt vom Islam zu einer anderen Religionsgemeinschaft unter Strafe stellt. Zudem wird die Freiheit der Religionsausübung durch die derzeit geltende Verfassung ausdrücklich garantiert und niemand darf wegen seiner Religion von Staats wegen diskriminiert werden (Art. 14 der irakischen Verfassung). Jedoch kann in Fällen, in denen das Gesetz keine ausdrückliche Regelung vorsieht, auf die inhaltlich nächstliegende Regelung des islamischen Rechts (Schari'a) zurückgegriffen werden. Die Schari'a sieht für den Abfall vom islamischen Glauben bzw. für den Übertritt zum Christentum oder zu einer anderen nicht-islamischen Religionsgemeinschaft die Todesstrafe vor (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak, Update vom 5. November 2009).

Die Todesstrafe wurde im August 2004 durch die irakische Übergangsregierung für bestimmte, schwerwiegende Delikte wieder eingeführt. Sie wird gegenwärtig sowohl im kurdisch verwalteten Teil des Nordiraks wie auch im Zentral- und Südirak auch verhängt und vollzogen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 11. April 2010 (Stand: April 2010)).

Es ist jedoch bisher kein Fall bekannt geworden, in dem unter Rückgriff auf Bestimmungen der Schari'a ein Todesurteil wegen Abfall vom islamischen Glauben oder wegen Konversion zum Christentum durch ein irakisches Gericht ausgesprochen wurde. Zudem sind keine Übergriffe staatlicher Stellen gegen Personen, die vom Islam zum Christentum konvertieren, bekannt geworden (vgl. zum Ganzen: amnesty international, Auskunft an das VG Leipzig vom 7. Dezember 2006; GIGA-Institut für Nahost-Studien, Auskunft an das VG Aachen vom 2. April 2007; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2007)).

Es ist demnach nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines Übertrittes zum christlichen Glauben von staatlicher Seite Verfolgung droht.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt jedoch fest, dass Konvertiten vom Islam zum Christentum von der Familie im Irak hart sanktioniert werden und getötet werden können. Der Staat leite keine Strafverfolgung gegen die Familie oder gegen islamistische Gruppen ein, die einen Konvertiten getötet hätten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak, Update vom 5. November 2009).

Auch das GIGA-Institut für Nahost-Studien geht davon aus, dass der Abfall vom Islam, wenn er im Irak ernst genommen wird, keine rein private Handlungsweise, sondern politischen Hochverrat darstellt und dass für Fundamentalisten und gewalttätige oder gewaltbereite Fanatiker im Irak jeder, der den Islam verlässt, ein Abtrünniger und mit dem Tode zu bestrafen ist (vgl. GIGA-Institut für Nahost-Studien, Auskunft an das VG Aachen vom 2. April 2007).

Ein ausreichender staatlicher Schutz vor den Übergriffen nichtstaatlicher Akteure existiert im Irak nach der allgemeinen Sicherheitslage nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 11. April 2010 (Stand: April 2010)).

Deshalb nimmt das erkennende Gericht an, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass dem Kläger wegen seines Übertrittes zum Christentum bei einer Rückkehr in den Irak zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt wegen seiner Konversion politische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, wenn die Tatsache seines Übertrittes zum Christentum z.B. durch die Nichtteilnahme an islamischen Riten bekannt wird, oder er seinen Glauben öffentlich leben will, indem er z.B. christliche Gottesdienste besucht. Insofern unterscheidet das Gericht zwischen der Gruppe der originären Christen, bei denen es aufgrund mangelnder Verfolgungsdichte jedenfalls in der Herkunftsregion des Klägers keine bestehende Gruppenverfolgung annimmt (vgl. Urteil vom 22. Mai 2007 - 16 K 3205/06.A - und vom 3. April 2007 - 16 K 505/06.A -) und einzelnen zum Christentum konvertierten Gläubigen, die auf Grund der im islamischen Weltbild nicht vorgesehenen Abkehr vom Islam besonders im Blickfeld islamischer Fundamentalisten stehen.

Die Verfolgungsgefahr besteht für den Kläger, obwohl sein Vater Christ war. Denn seinen Angaben zufolge ist er in einer moslemischen Familie aufgewachsen, in der der Glaube des Vaters lediglich geduldet und Wert darauf gelegt wurde, dass die Kinder als Moslems aufwuchsen. Weil er erhebliche Repressalien auch von Seiten seiner Familie fürchtet, hat der Kläger im Irak noch niemanden über seinen Glaubenswechsel in Kenntnis gesetzt. [...]

Auch § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Asylverfahrens, der § 28 Abs. 2 AsylVfG entgegenwirken soll, lässt sich nicht feststellen. Das Gericht geht im Hinblick auf den nunmehr nahezu anderthalbjährigen regelmäßigen Besuch von Gottesdiensten und unter Berücksichtigung des Ergebnisses seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass der Kläger, dem die christliche Religion schon durch die Religionszugehörigkeit seines Vaters im Irak nicht völlig fremd war, sich auf Grund einer ernstlichen Gewissensentscheidung und nicht lediglich aus asyltaktischen Gründen vom Islam abgewandt und dem Christentum zugewandt hat. [...]