OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.08.2010 - 8 A 3806/05.A - asyl.net: M17905
https://www.asyl.net/rsdb/M17905
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr in Äthiopien für Journalisten, der verdächtigt wurde, der OLF zumindest nahezustehen. Oromische Volkszugehörige geraten zudem generell unter den Verdacht, der Opposition anzugehören. Die Gefahr für den Kläger wird weiter durch die ungewöhnlich indiskreten Ermittlungen der Deutschen Botschaft Addis Abeba erhöht.

Die Verfolgungsgefahr hat sich ferner dadurch erhöht, dass der Kläger sich in einer Exilorganisation von oromischen Äthiopiern politisch engagiert.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Äthiopien, Oromo, Journalist, OLF, Deutsche Botschaft, Exilpolitik, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 5, AsylVfG § 28 Abs. 1a
Auszüge:

[...]

b) Dies zugrunde gelegt sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG zur Überzeugung des Gerichts im Falle des Klägers erfüllt. Er muss bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit staatlichen Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst, a) und d) RL 2004/83/EG, nämlich - zumindest - mit körperlicher Misshandlung und Inhaftierung auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Entscheidung rechnen. Die Verfolgungshandlungen knüpfen an seine politische Überzeugung, den Verfolgungsgrund gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst, e) RL 2004/83/EG, an, und drohen ihm landesweit. [...]

Dabei geht der Senat nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. Juni 2010, die den Vortrag des Klägers - mit Ausnahme der Angaben zur Ausreise - in allen wesentlichen Punkten bestätigt hat, von folgendem Sachverhalt aus:

Der Kläger war bis zu seiner Ausreise in leitender Position als "Senior Editor" in der Nachrichtenabteilung des staatlichen Rundfunk- und Fernsehsenders von Äthiopien tätig. Als oromischer Volkszugehöriger hat er bei verschiedenen Gelegenheiten der Regierungspolitik, vor allem dem Umgang der Regierung mit der oromischen Bevölkerung, kritisch gegenüber gestanden, was seinen Kollegen und Vorgesetzten auch aufgefallen ist. Er sah sich deshalb, auch wenn ihm keine konkreten Kontakte zur oromischen Befreiungsorganisation OLF nachweisbar waren, dem Verdacht ausgesetzt, der OLF zumindest nahezustehen. Nachdem er am 8. August 2001 (hiesiger Zeitrechnung) eine Arbeitsbesprechung nach einer erneuten Meinungsverschiedenheit verlassen hatte, erhielt er eine schriftliche Ermahnung. Diese sollte ihm "wegen des Fehlers, den er begangen" habe, als "Warnung" dienen. Im Frühjahr 2002 reiste er zu einer genehmigten Fortbildungsreise in die Niederlande und kehrte nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurück.

Nach der Ausreise im Jahr 2002 sind weitere verfolgungsrelevante Umstände hinzugetreten. Diese Umstände führen - je für sich betrachtet, zumindest aber im Rahmen einer Gesamtbetrachtung - dazu, dass sich die Gefährdung des Klägers erhöht hat, so dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien Verfolgungsmaßnahmen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit drohen.

aa) In objektiver Hinsicht ist bei der Gefährdungsprognose zu berücksichtigen, dass sich die Gefährdungssituation für Journalisten oromischer Volkszugehörigkeit weiter verschärft hat. Das gilt nicht nur in Bezug auf Journalisten der freien Presse, sondern auch in Bezug auf bislang als loyal angesehene, beim staatlichen Rundfunk beschäftigte Journalisten.

Zahlreiche Journalisten sind wegen verschiedener Delikte wie "Anstachelung zu ethnischer Auseinandersetzung", "Aufruf zu Gewalt und Bürgerkrieg" und "Verbreitung falscher Gerüchte" inhaftiert worden. Zwar wurden sie meist nach einer gewissen Zeit ohne Anklageerhebung freigelassen, häufig aber nur gegen hohe Kautionszahlungen, was eine abschreckende Wirkung auf Journalisten und Presseorgane hat (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17. April 2010, S. 11).

Einer Vielzahl von Journalisten ist es inzwischen gelungen, das Land zu verlassen. Etwa 50 Journalisten halten sich im selbst gewählten Exil auf, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Äthiopien Update: Aktuelle Entwicklungen bis Juni 2009, S. 15; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17. April 2010, S. 11).

Oromische Volkszugehörige stehen generell unter dem Verdacht, der Opposition anzugehören. Die äthiopische Regierung misstraut den Angehörigen des Oromo-Volkes, sofern sie nicht in die regierungstreue OPDO eingebunden sind. Bereits der Verdacht einer Unterstützung der verbotenen OLF kann zu strafrechtlicher Verfolgung, aber auch zu weiteren Maßnahmen, wie etwa zur Entlassung durch staatliche Arbeitgeber und Einschüchterung von Familienangehörigen führen. Es wird auch von vorbeugenden Festnahmen von OLF-Sympathisanten berichtet, die häufig nach einigen Wochen mit einer Verwarnung entlassen werden, ohne dass ein Gericht mit ihrem Fall befasst worden ist (Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17. April 2010, S. 13; Schweizerisches Bundesamt für Migration vom 7. Januar 2010, Focus Äthiopien, Illegale Opposition, S. 5, 11).

Das gilt auch in Bezug auf oromische Volkszugehörige, die aus dem Ausland nach Äthiopien zurückkehren. Tauchen nach ihrer Rückkehr Verdachtsmomente auf, haben sie mit Festnahme und, um Informationen zu erlangen, schweren Misshandlungen zu rechnen. Häufig werden sie erst nach geraumer Zeit, wenn man annimmt, dass ihr Widerstandsgeist gebrochen sind, ohne Anklageerhebung freigelassen (vgl. amnesty international, Auskunft vom 9. April 2008 an das VG Köln).

Die entschlossene Vorgehensweise der äthiopischen Regierung insbesondere gegen oromische Journalisten wird daran sichtbar, dass - wie der Kläger zu Recht vorgetragen hat - im Jahr 2008 nach Erkenntnissen von amnesty international 60 Journalisten oromischer Volkszugehörigkeit, die beim staatlichen Fernsehen angestellt waren, ihrer Posten enthoben wurden und viele von ihnen ohne Angabe von Gründen verhaftet worden sind (vgl. amnesty international, UA 315/08, Arbitrary detention/torture or other ill-treatment, vom 14. November 2008).

Die Einschätzung des Instituts für Afrika-Studien, dass die Gefährdung des Klägers als Journalist oromischer Herkunft in seiner im vorliegenden Verfahren eingeholten Auskunft vom 5. Mai 2010 als hoch angesehen hat, ist nach alldem plausibel.

bb) Die Gefährdung des Klägers wird weiter durch die - nach den Erfahrungen des langjährig mit Asylverfahren befassten Senats - ungewöhnlich indiskreten Ermittlungen der Deutschen Botschaft in Addis Abeba erhöht. Spätestens infolge dieser Ermittlungen beim Fernsehsender muss den maßgeblichen staatlichen Stellen, insbesondere dem äthiopischen Nachrichtendienst, der in die Vorgänge innerhalb des staatlichen Senders eingebunden sein dürfte, bewusst geworden sein, dass der Kläger im Ausland um Asyl nachgesucht hat und dass in diesem Zusammenhang seine berufliche Tätigkeit und die Meinungsverschiedenheiten um die Haltung zur OLF eine Rolle spielen. Zudem ist der damals schon vorhandene Verdacht einer zu großen Nähe zur Opposition, nicht zuletzt zur OLF, durch die Nachfragen beim Personalchef und den Redaktionskollegen aktuell ins Bewusstsein gerückt worden.

cc) Die Gefährdung des Klägers hat sich ferner durch sein eigenes Verhalten im Bundesgebiet verschärft, weil er sich in einer Exilorganisation von oromischen Äthiopiern politisch engagiert. Diese Nachfluchtumstände sind für die Verfolgungsprognose ebenfalls beachtlich.

Die in Bezug auf das Asylgrundrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht entwickelten Einschränkungen hinsichtlich der Beachtlichkeit von subjektiven Nachfluchtgründen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51 = juris Rn. 37 ff.), die in § 28 Abs. 1 AsylVfG einfachgesetzlich normiert sind, gelten für den internationalen Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht in gleicher Weise (Vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Dezember 2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31, und vom 24. September 2009 - 10 C 25.08 -, NVwZ 2010, 383, sowie Beschluss vom 23. April 2008 - 10 B 106.07 - Juris).

In Umsetzung von Art. 5 RL 2004/83/EG bestimmt § 28 Abs. 1a AsylVfG, dass eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Anders als § 28 Abs. 1 AsylVfG für das Asylrecht setzt § 28 Abs. 1a AsylVfG hinsichtlich des Flüchtlingsschutzes nicht voraus, dass die Überzeugung schon im Heimatland erkennbar betätigt worden ist.

Es ist sowohl davon auszugehen, dass staatliche äthiopische Stellen Kenntnis von den oppositionellen Aktivitäten des Klägers erlangt haben (1), als auch davon, dass ihm wegen seiner Mitgliedschaft in der Organisation NRW e.V. im Falle einer Rückkehr Übergriffe von flüchtlingsrechtlich erheblichem Gewicht drohen (2). [...]