OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 19.10.2010 - 11 ME 316/10 - asyl.net: M17903
https://www.asyl.net/rsdb/M17903
Leitsatz:

In der Rechtsprechung ist bislang nicht abschließend geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen auch die (Klein-)Familie eine soziale Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen und demnach eine an die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe anknüpfende Gefahr für Leib und Leben wegen Blutrache die Anerkennung als Flüchtling begründen kann.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Blutrache, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Retraumatisierung, Türkei,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Wie auch der Antragsteller nicht in Abrede stellt, hat über ein materielles Asylvorbringen i.S.d. § 13 AsylVfG ausschließlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, also nicht die Ausländerbehörde zu entscheiden. Dem Verwaltungsgericht ist auch in der Annahme zu folgen, dass die Berufung des Antragstellers auf eine ihm drohende Blutrache noch als i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG potentiell erhebliches Vorbringen und damit materiell als "Asylantrag" anzusehen ist. In der Rechtsprechung ist bislang nicht abschließend geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen auch die (Klein-)Familie eine soziale Gruppe i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen und demnach eine an die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe anknüpfende Gefahr für Leib oder Leben wegen Blutrache flüchtlingsanerkennungsrelevant sein kann. Während etwa der VGH München (Urt. v. 9.8.2010 - 11 B 09.300091 -, juris, Rn. 38) die Frage ohne nähere Begründung verneint, sie vom OVG Hamburg in der bereits vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung (Beschl. v. 5.12.2008 - 5 Bf 45/07 AZ - juris) unter Bezugnahme auf das Oberverwaltungsgericht Schleswig (Urt. v. 27.1.2006 - 1 LB 22/05 -, InfAuslR 2007, 256 ff.) differenziert beantwortet wird, hat sie der 2. Senat des erkennenden Gerichts offen gelassen (vgl. Urt. v. 24.3.2009 - 2 LB 643/07 -, juris, Rn. 54) und wird sie jedenfalls in erstinstanzlichen Entscheidungen (und in der Literatur) teilweise bejaht (vgl. die Nachweise bei Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205 ff. unter IV 2). Über das zutreffende rechtliche Verständnis - und natürlich das Vorliegen der erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen - hat nicht der Antragsgegner, sondern (zunächst) das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu entscheiden. Der Antragsteller wird durch den damit verbundenen Verweis auf die von ihm ursprünglich selbst angekündigte Asylantragstellung (hinsichtlich der Berufung auf eine ihm drohende Blutrache) also nicht auf einen "ersichtlich aussichtslosen" Rechtsweg verwiesen. Ihm ist auch hinreichend Zeit und Gelegenheit zu der von ihm nunmehr abgelehnten Asylantragstellung gegeben worden. [...]