OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 09.11.2010 - 8 PA 265/10 - asyl.net: M17900
https://www.asyl.net/rsdb/M17900
Leitsatz:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats teilen minderjährige Kinder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich das Schicksal ihrer Eltern (sog. familienbezogene Gesamtbetrachtung). Steht den Eltern etwa wegen mangelnder Integration in Deutschland über Art. 8 EMRK i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG kein Aufenthaltsrecht zu, so ist davon auszugehen, dass auch ein Minderjähriger, der in Deutschland geboren wurde oder dort lange Zeit gelebt hat, grundsätzlich auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden kann.

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, minderjährig, Kindeswohl, Eltern-Kind-Verhältnis, Integration, Achtung des Privatlebens
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 24 Abs. 2, UN-KRK Art. 2, UN-KRK Art. 3 Abs. 1, EUV Art. 6 Abs. 1 S. 1, GR-Charta Art. 51 Abs. 1 S. 1, AEUV Art. 288, UN-KRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsbeschl. v. 18.5.2010 - 8 PA 86/10 -, juris Rn. 10 m.w.N.) und anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 22.7.2009 - 11 S 1622/07 -, juris Rn. 81; Bayerischer VGH, Beschl. v. 13.7.2010 - 19 ZB 10.1129 -, juris Rn. 7 jeweils m.w.N.) teilen minderjährige Kinder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich das Schicksal ihrer Eltern (sog. familienbezogene Gesamtbetrachtung). Steht den Eltern etwa wegen deren mangelnder Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland über Art. 8 EMRK i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG kein Aufenthaltsrecht zu, so ist davon auszugehen, dass auch ein Minderjähriger, der im Bundesgebiet geboren wurde oder dort lange Zeit gelebt hat, grundsätzlich auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden kann.

Diese Rechtsprechung steht entgegen der Auffassung der Klägerin nicht im Widerspruch zu den Vorgaben des Art. 24 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Europäische Grundrechtecharta - GR-Charta - (ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 1) und der Art. 2 und 3 Abs. 1 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 - UN-Kinderrechtskonvention - (BGBl. II 1992, S. 121).

Nach Art. 24 Abs. 2 GR-Charta muss bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Die Bestimmungen der GR-Charta sind durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV (in der Fassung des Lissabonner Vertrages, ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 13) zwar verbindlicher Teil der Europäischen Verträge und damit des Primärrechts geworden (vgl. Lenz/Borchardt, EUV, 5. Aufl., Anhang zu Art. 6 Rn. 19; Pache/Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon - die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, in: EuZW 2008, 519). Sie binden nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCharta - neben den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union - auch die Mitgliedstaaten, diese indes nur bei der Durchführung des Rechts der Union (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.3.2010 - 1 C 8/09 -, juris Rn. 35; Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl., GR-Charta, Art. 51 Rn. 13). Das Unionsrecht in diesem Sinne umfasst neben dem europäischen Primärrecht auch das Sekundärrecht, mithin das von den Organen der EU aufgrund von Kompetenzzuweisungen in den Verträgen erlassene Recht, insbesondere Rechtsakte nach Art. 288 AEUV bzw. früher Art. 249 EGV (vgl. Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Oktober 2006, EGV Art. 249 Rn. 12). Die hier maßgebliche Bestimmung des § 25 Abs. 5 AufenthG ist danach aber kein Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GR-Charta; sie ist auch nicht auf solches zurückzuführen. Es handelt sich vielmehr um eine nationale aufenthaltsrechtliche Bestimmung (vgl. Senatsbeschl. v. 21.9.2010 - 8 PA 198/10 -). Bei der Anwendung und Auslegung dieser nationalen Bestimmung sind die deutschen Behörden daher nicht an die Bestimmungen der GR-Charta gebunden (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2010 - 8 LA 154/10 -, juris Rn. 15). Art. 24 Abs. 2 GRCharta kann der Klägerin daher von vorneherein keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK vermitteln.

Im Übrigen statuiert Art. 24 Abs. 2 GR-Charta keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls. Die Bestimmung fordert vielmehr nur, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Das Wohlergehen des Kindes muss danach zwar bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden, es bindet die staatlichen Stellen aber nicht derart, dass diesem stets der Vorrang eingeräumt werden müsste und nicht andere Gründe überwiegen könnten (vgl. Schwarze, a.a.O., Art. 24 Rn. 8 m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die dargestellte Rechtsprechung des Senats in jeder Hinsicht gerecht. Sie ist zum einen gerade auf die Wahrung der Familieneinheit von Eltern und Kindern gerichtet und soll Unterbrechungen in der Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindeswohls vermeiden. Zum anderen formuliert sie lediglich einen Grundsatz, der einzelfallbezogen vom Kindeswohl geforderte Ausnahmen gestattet. So wird beispielsweise bei einem fast volljährigen, ohne Unterstützung der Eltern lebenstüchtigen Kind, das eigene Integrationsleistungen erbracht hat, ein Schutz nach Art. 8 EMRK wahrscheinlicher sein als bei einem Kleinkind, das aufenthaltsrechtlich regelmäßig das Schicksal der Eltern teilt (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2010, a.a.O., Rn. 16).

Nach Art. 2, 8 Abs. 1 und 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht des Kindes stets zu beachten und bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Die Bestimmungen statuieren damit ebenso wie Art. 24 Abs. 2 GR-Charta keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls; das Wohlergehen des Kindes muss lediglich vorrangig berücksichtigt werden. Dem genügt, wie dargestellt, die Rechtsprechung des Senats. Im Prozesskostenhilfeverfahren bedarf es daher keiner Entscheidung, ob die Ausländerbehörden - nach der Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung vom 6. März 1992 (vgl. BGBl. II 1992, S. 990) am 15. Juli 2010 (vgl. Bundesministerium der Justiz, UN-Kinderrechtskonvention: Rücknahme des Vorbehalts rechtswirksam, Pressemitteilung v. 15.7.2010, zitiert nach: www.bmj.bund.de, Stand: 8.11.2010) - an die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention überhaupt unmittelbar gebunden sind (vgl. hierzu Lorz, Nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung: Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht ?, zitiert nach: www.nds-fluerat.org, Stand: 8.11.2010). [...]