VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2010 - A 9 S 2237/10 - asyl.net: M17889
https://www.asyl.net/rsdb/M17889
Leitsatz:

Zulassung der Berufung wegen Verfahrensfehler: Zur Wirksamkeit einer nicht unterschriebenen Klageschrift, zur Zurechnung des Handelns der Mitarbeiterin eines Wohlfahrtsverbandes, zur Mitteilungspflicht einer Adressenänderung, zur Verletzung rechtlichen Gehörs bei Ladung an die unzutreffende Anschrift.

Schlagwörter: Klagefrist, Fristversäumnis, Unterschrift, ladungsfähige Anschrift, Verschulden, Berufungszulassung, Verfahrensfehler, rechtliches Gehör, mündliche Verhandlung, Terminsladung, Mitwirkungspflicht, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Zurechnung, Person des Vertrauens, Prozessbevollmächtigte, Rechtsanwalt, Erfüllungsgehilfe, Rechtsdienstleistungsgesetz, Schriftform, Entwurf
Normen: GG Art. 103 Abs. 1, AsylVfG § 10 Abs. 1, VwGO § 173 S. 1, ZPO § 85 Abs. 2, BGB § 278 S. 1, RDG § 1 Abs. 1 S. 1, VwGO § 67 Abs. 2, VwGO § 81 Abs. 1, BGB § 126 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der von der Klägerin gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, weil der gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO statthafte und ordnungsgemäß dargelegte Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs vorliegt. Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts auch beruhen.

1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verbürgt als "prozessuales Urrecht" den Beteiligten eines Gerichtsverfahrens, vor Erlass einer Entscheidung, die ihre Rechte betrifft, zu Wort kommen und mit ihren Ausführungen und Anträgen Einfluss auf das Verfahren nehmen zu können (vgl. BVerfG, Plenumsbeschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 [408 f.]). Hiergegen wird mit einer fehlerhaften Ladung verstoßen, weil den Beteiligten damit die Möglichkeit genommen wird, ihre Sicht der Dinge in der mündlichen Verhandlung darzustellen.

Wie im Zulassungsantrag zutreffend ausgeführt, war die Terminsladung für die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 11.05.2010 der Klägerin aber nicht ordnungsgemäß zugestellt worden. Denn sie hatte im Schriftsatz vom 10.11.2009 ihre neue und richtige Anschrift verwendet, was vom Verwaltungsgericht durch ein Versehen nicht beachtet worden war. Ob die bloße Verwendung einer neuen Anschrift im Briefkopf ohne ausdrücklichen Hinweis auf die damit verbundene Adressänderung auch den erhöhten Mitwirkungsanforderungen aus § 10 Abs. 1 HS 2 AsylVfG genügt, kann dabei offenbleiben. Dies gilt einerseits, weil die der Klägerin am 22.07.2000 erteilten Hinweise insoweit nicht die "gebotene Deutlichkeit" aufwiesen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.07.1996 - 2 BvR 96/95 -, DVBl 1996, 1252). Denn dort waren Rechtsfolgen nur für den Fall beschrieben, dass sich die Adresse geändert hat, "ohne dass dies diesen Stellen bekannt geworden ist". Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht selbst die Beteiligten mit Schreiben vom 19.08.2010 darauf hingewiesen, dass die Ladung nicht wirksam zugestellt worden sei.

2. Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung auch beruhen.

a) Dies folgt indes nicht daraus, dass die Klägerin bei Wahrnehmung des Termins zur mündlichen Verhandlung ihr fehlendes Verschulden an der Versäumung der Klagefrist hätte vortragen können. Dass die von der Klägerin zur Klageerhebung eingeschaltete Mitarbeiterin ... versehentlich ein nicht unterschriebenes Exemplar versandte - wie in der eidesstattlichen Versicherung vom 08.09.2010 angegeben -, hätte nämlich nicht zur Wiedereinsetzung in die Klagefrist führen können.

Zutreffend hat der Zulassungsantrag indes darauf hingewiesen, dass eine Zurechnung des Verschuldens der von der Klägerin eingeschalteten Mitarbeiterin des Diakonischen Werks gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO ausscheiden dürfte. Zwar kann eine Verschuldenszurechnung nach § 85 Abs. 2 ZPO auch dann erfolgen, wenn der Beauftragte selbst kein Rechtsanwalt ist (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 07.03.1995 - VI ZB 3/95 -, NJW-RR 1995, 825 für den an die Mutter erteilten Auftrag, einen Rechtsanwalt einzuschalten). Im vorliegenden Fall fehlt es aber an hinreichenden Anhaltspunkten für die Annahme einer auf die Klageerhebung bezogenen Bevollmächtigung und am nach außen erkennbaren Auftreten eines Vertreters.

Das Verschulden der von ihr ausgewählten und beauftragten Mitarbeiterin des Diakonischen Werks muss der Klägerin aber nach § 278 Satz 1 BGB zugerechnet werden. Denn sie selbst hat sich deren Hilfe im Innenverhältnis bedient, so dass der Fehler auch aus ihrer Sphäre stammt. Für das Verschulden der von ihr eingeschalteten Person ihres Vertrauens muss die Klägerin aber einstehen. Denn die Verschuldenszurechnung soll gerade bewirken. dass durch die Einschaltung Dritter keine Verschiebung des Prozessrisikos eintritt (vgl. etwa v. Mettenheim, in: Münchner Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 85 Rn. 10). Wenn die Klägerin daher die Hilfe eines Bevollmächtigten oder Erfüllungsgehilfen in Anspruch nimmt, ist sie insoweit grundsätzlich so zu behandeln, als ob sie selbst gehandelt hätte. Die Klägerin hat der hinzugezogenen Mitarbeiterin des auch wesentliche Bereiche zur selbständigen Bearbeitung übertragen, denn ausweislich der von der Mitarbeitern in der eidesstattlichen Versicherung vom 08.09.2010 gemachten Angaben hat sie die Aufgabe übernommen, die Klageschrift zu fertigen und beim Verwaltungsgericht einzureichen.

Nur durch diese Auslegung kann im Übrigen eine "Verantwortungslücke" vermieden werden. Denn wenn die Klägerin einen Rechtsanwalt eingeschaltet hätte, wäre ihr dessen versehentliche Nichtunterzeichnung der Klageschrift nach § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet worden (vgl. BGH, Beschluss vom 27.09.1994 - XI ZB 9/94 -, NJW 1994, 3235). Aus der Tatsache, dass die Klägerin nicht einen gemäß § 67 Abs. 2 VwGO zur Vertretung befugten Bevollmächtigten, sondern die Mitarbeiterin beauftragt hat, darf ihr aber kein Vorteil erwachsen. Es ist daher auch als eigenes Verschulden der Klägerin zu bewerten, wenn die eigenverantwortliche Erstellung und Übermittlung einer Klageschrift an einen zur Prozessführung nicht befugten Dritten übergeben wird. Auch die Einführung des Rechtsdienstleistungsgesetzes hat nichts daran geändert, dass ein Kläger hinsichtlich prozessualer Fragestellungen sichere Auskünfte nur von einem Rechtsanwalt oder sonst durch § 67 Abs. 2 VwGO zur Prozessvertretung zugelassenen Vertreter erhalten kann. Vielmehr ist der Anwendungsbereich des RechtsdienstIeistungsgesetzes nunmehr ausdrücklich auf die Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen begrenzt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 RDG). [...]

b) Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass bei einer persönlichen Anwesenheit der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung die Besonderheiten der Klageerhebung besprochen worden wären. Denn der Schriftsatz vom 16.06.2009 erfüllt trotz fehlender Unterschrift die Voraussetzung einer wirksamen Klageerhebung.

Zwar verlangt § 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur, dass die Klage schriftlich erhoben wird und ordnet die handschriftliche Unterzeichnung damit nicht ausdrücklich an. Es entspricht aber ständiger Rechtsprechung, dass bestimmende Schriftsätze grundsätzlich einer eigenhändigen Unterschrift bedürfen (vgl. auch § 126 Abs. 1 BGB). Nur so kann eine verlässliche Zurechenbarkeit gewährleistet werden, aus der einerseits hervorgeht, dass die Erklärung von einer bestimmten Person stammt, und andererseits sichergestellt ist, dass es sich bei der Eingabe nicht nur um einen Entwurf, sondern um eine gewollte Prozesserklärung handelt. Ein Schriftsatz ohne eigenhändige Unterschrift stellt zunächst keine rechtsverbindliche Erklärung dar, weil regelmäßig erst die Unterschrift zum Ausdruck bringt, dass das Schriftstück, das bis dahin ein unfertiges Internum war, nunmehr für den Verkehr bestimmt ist. Auf dieses Unterschriftserfordernis kann indes ausnahmsweise verzichtet werden, wenn sich aus dem Schriftsatz und den beigefügten Unterlagen die Urheberschaft und der Wille, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, hinreichend sicher ergeben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.12.2001 - 3 B 33.01 - m.w.N.).

Solche besonderen Umstände liegen hier vor. Zwar reicht hierfür die Übersendung einer Fotokopie des angefochtenen Bescheides mit der Klageerhebung nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht aus, weil hierzu auch andere Personen als die Klägerin Zugang gehabt haben könnten (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.08.1983 - 8 C 28.83 -, BayVBl 1984, 537). Hinzu kommt vorliegend aber, dass der Klage als Anlage auch eine Fotokopie der Aufenthaltsgestattung der Klägerin beigefügt war. Auch insoweit ist zwar nicht auszuschließen, dass ein Dritter in den Besitz einer Mehrfertigung gekommen sein könnte. Die gesamten Umstände des vorliegenden Falles geben aber keinen Raum für ernstliche Zweifel an der Urheberschaft der Klage. Die theoretisch bestehende Möglichkeit, dass es sich lediglich um einen auf Betreiben Dritter an das Gericht versandten Klageentwurf handelte, der vom Willen der Klägerin nicht umfasst war, ist angesichts der Tatsache, dass der Schriftsatz vom identifizierbaren Faxgerät des ... aus übermittelt worden ist, praktisch vernachlässigbar. Denn die Einschaltung des ... ist zuvor dem Bundesamt gegenüber mit Vollmachtsvorlage angezeigt worden. Bei lebensnaher Betrachtungsweise musste daher auch ohne Durchführung einer Beweisaufnahme davon ausgegangen werden, dass die Unterzeichnung der Klageschrift nur versehentlich unterblieben ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.12.1988 - 9 C 40.87 -, BVerwGE 81, 32). [...]