OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 22.11.2010 - 1 A 383/09 - asyl.net: M17883
https://www.asyl.net/rsdb/M17883
Leitsatz:

Ob einem in Deutschland geborenen bzw. aufgewachsenen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis wegen Verwurzelung zu erteilen ist (§ 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK), beurteilt sich nach einer Prüfung der konkreten Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls. Dass der Betreffende in der Vergangenheit lediglich im Besitz einer Duldung war, macht diese Prüfung nicht entbehrlich. Denn auch in diesem Fall kann eine Aufenthaltsbeendigung den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1

EMRK berühren.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Privatlebens, Verwurzelung, Familieneinheit, Verhältnismäßigkeit, Integration, wirtschaftliche Integration, Straftat, Sicherung des Lebensunterhalts, Kosovo, Roma, Altfallregelung, Bleiberecht, Duldung
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8, AufenthG § 23, AufenthG § 104a Abs. 1, AufenthG § 104a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, im Falle des Klägers seien die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowohl nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG / Art. 8 Abs. 1 EMRK (Schutz des Familienlebens) als auch nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK (Schutz des Privatlebens) erfüllt. Soweit das Verwaltungsgericht den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Schutz des Familienlebens abgeleitet hat, könnte es nach derzeitigem Sachstand fraglich sein, ob das Urteil im Ergebnis einer rechtlichen Prüfung standhalten würde (a). Das kann aber nicht zur Zulassung der Berufung führen. Denn das Verwaltungsgericht hat weiter – selbständig tragend – ausgeführt, dass dem Kläger zudem ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Verwurzelung zusteht. Die Einwände, die die Beklagte insoweit gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts richtet, dringen nicht durch (b).

a) Ob die Annahme des Verwaltungsgerichts tragfähig ist, dem Kläger stehe mit Rücksicht auf seine vier, bei der Mutter in G. lebenden Kinder gemäß § 25 Abs. 5 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG / Art. 8 Abs. 1 EMRK (Schutz des Familienlebens) ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu, könnte fraglich sein. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang maßgeblich darauf abgestellt, dass die in den Jahren 2003, 2004, 2007 und 2009 geborenen Kinder ebenso wie die Mutter im Besitz bis zum 16.06.2011 gültiger Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 AufenthG sind und dem Kläger für die Dauer dieser Aufenthaltserlaubnisse aus Gründen der Familieneinheit ebenfalls ein Aufenthaltsrecht zustehe.

Zwar ist dem Verwaltungsgericht darin zu folgen, dass § 25 Abs. 5 AufenthG neben den Regelungen zum Familiennachzug nach § 27 ff. AufenthG anwendbar sein kann, wenn eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nicht gewährt werden kann, der von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geforderte Schutz der Familie jedoch gleichwohl mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Familieneinheit gebietet. Das kann etwa der Fall sein, wenn ein Familienangehöriger allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung von familiärer Lebenshilfe angewiesen ist, und den Betreffenden nicht zuzumuten ist, die Familieneinheit im Herkunftsland herzustellen (vgl. OVG Bremen, B. v. 29.10.2009 – 1 B 201/09 – m.w.N.).

Dass im vorliegenden Fall besondere Umstände gegeben sind, die nach diesem Maßstab aufgrund höherrangigen Rechts die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger gebieten würden, hat das Verwaltungsgericht nicht festgestellt. Allein der Umstand, dass die Kinder mir ihrer Mutter zur Zeit im Besitz befristete Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 AufenthG sind, reicht hierfür nicht aus. Nach bisherigem Sachstand erscheint deshalb offen, ob die Entscheidung des Verwaltungsgerichts in diesem Punkt einer rechtlichen Prüfung standhalten würde. Gleichwohl kann die Berufung nicht zugelassen werden.

b) Denn das Verwaltungsgericht hat weiter angenommen, der Kläger erfülle zudem aufgrund seiner Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 Abs. 1 ERMK (Schutz des Privatlebens). Der Zulassungsantrag zeigt insoweit Gesichtspunkte, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils wecken könnten, nicht auf. [...]

In Anwendung dieses Maßstabs, dem auch das Oberverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung folgt (vgl. zuletzt B. v. 17.09.2010 – 1 B 174/10 – juris, m. w. N.), hat das Verwaltungsgericht eine konkrete und individuelle Prüfung des Einzelfalles durchgeführt. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine behördlich veranlasste Aufenthaltsbeendigung mit Rücksicht auf die Verwurzelung des Klägers in die hiesigen Verhältnisse unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK wäre. Dazu hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Kläger, der der Volksgruppe der Roma angehört und aus dem Kosovo stammt, im April 1991 als Achtjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland eingereist ist, hier im Weiteren aufgewachsen ist, die Schule besucht hat, sozial integriert ist und – nachdem ihm im Oktober 2007 erstmals eine Beschäftigungserlaubnis erteilt worden war – seit April 2008 nahezu ununterbrochen beruflich tätig ist. Eine reale Beziehung des Klägers zum Kosovo besteht nach Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht mehr. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang in seine Würdigung einbezogen, dass der Aufenthalt des Klägers seit etlichen Jahren als Angehöriger der Volksgruppe der Roma aus dem Kosovo lediglich geduldet ist, hat diesem Umstand im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Belange aber kein ausschlaggebendes Gewicht beigemessen. Es hat weiter ausgeführt, dass die Straftat, wegen der mit Strafbefehl vom 28.12.2005 eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen gegen den Kläger verhängt worden ist, nicht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen entgegen stehe.

Die Darlegungen der Beklagten im Zulassungsantrag sind nicht dazu geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Ausführungen zu wecken.

(1) Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Ansicht der Beklagten zutreffend angenommen, dass das Vorhandensein einer Altfallregelung in den §§ 104a, 104b AufenthG nicht dazu führt, dass § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK als Anspruchsgrundlage in den sogenannten Verwurzelungsfällen ausscheiden würde. Beide Regelungen stehen selbständig nebeneinander. Die §§ 104a, 104b AufenthG enthalten insoweit spezielle Bestimmungen, hindern aber nicht den Rückgriff auf § 25 Abs. 5 AufenthG, wenn dies aus Gründen höherrangigen Rechts geboten ist (vgl. BVerwG, U. v. 27.01.2009, a.a.O.; OVG Hamburg, B. v. 20.08.2009 – 3 Bs 104/09 – juris).

(2) Weiterhin ist das Verwaltungsgericht entgegen der Ansicht der Beklagten zu Recht davon ausgegangen, dass ungeachtet des langjährigen Status als – lediglich – Geduldeter im Falle des Klägers der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet ist. Der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR weit. Er erfasst, wie dargelegt, die Gesamtheit der Bindungen des Ausländers zu der Gesellschaft, in der lebt (vgl. auch Eckertz-Höfer, Neuere Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens, ZAR 2008, 41 43> m.w.N.).

Das bedeutet, dass der aufenthaltsrechtliche Status, den der Ausländer bislang besessen hat, durchaus ein Kriterium sein kann, das für die Ermittlung des Ausmaßes der Verwurzelung von Relevanz ist. So kann ein lediglich geduldeter Aufenthalt dazu führen, dass die Schutzwürdigkeit des Interesses in den Fortbestand des Aufenthalts sich mindert. Maßgeblich sind insoweit aber stets die Verhältnisse des Einzelfalls, d.h. insbesondere auch die Gründe, die die langjährige Duldung veranlasst haben. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann jedenfalls nicht angenommen werden, dass der Duldungsstatus einen hier aufgewachsenen Ausländer von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ausschließt (vgl. auch EGMR, U. v. 31.01.2006 – 50435/99 – <da Silva und Hoogkamer>, InfAuslR 2006, 298).

Nach diesem Maßstab ist das Verwaltungsgericht zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass der langjährige geduldete Aufenthalt des Klägers, der auf entsprechende Erlasse der obersten Landesbehörde zur aufenthaltsrechtlichen Stellung hier lebender Roma aus dem Kosovo zurückgeht, nach dem Umständen des Falles nicht der Annahme einer nachhaltigen Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse entgegensteht. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, unter welchem Gesichtspunkt diese konkrete, fallbezogene Würdigung fehlerhaft sein könnte.

(3) Die persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bindungen des Klägers, die für die Annahme einer Verwurzelung sprechen, sind vom Verwaltungsgericht im Übrigen konkret ermittelt und gewichtet worden (Seite 12/13 des Urteils). Dass der Kläger über keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung verfügt, ist vom Verwaltungsgericht gesehen worden und steht entgegen der Ansicht der Beklagten der Annahme einer Verwurzelung nicht entgegen. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass allein der Umstand, dass ein im Bundesgebiet aufgewachsener Ausländer weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt, nicht ausreicht, um ungeachtet aller Besonderheiten des Einzelfalls eine Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse zu verneinen (so ausdrücklich BVerwG, B. v. 19.01.2010, a.a.O.). In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht bezüglich der wirtschaftlichen Integration auf die seit April 2008 nahezu ununterbrochene berufliche Tätigkeit des Klägers abgestellt. Es hat dabei auch berücksichtigt, dass der Duldungsstatus den Zugang des Klägers zum Arbeitsmarkt in der Vergangenheit erschwert hat; die zunächst erfolgte Ablehnung der Beschäftigungserlaubnis durch die Beklagte (Bescheid vom 13.03.2007) belegt das.

(4) Die vom Kläger begangene Straftat, wegen der mit Strafbefehl vom 18.12.2005 eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen gegen ihn verhängt worden ist, ist vom Verwaltungsgericht ebenfalls konkret gewürdigt worden (Seite 13/14).

Den Ausführungen des Verwaltungsgerichts ist zu entnehmen, dass diese Straftat nicht als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung von Straftaten ausgeht, also diesbezüglich Gründe gegeben sind, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen. Der Zulassungsantrag zeigt insoweit Gesichtspunkte, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, nicht auf.

(5) Schließlich setzt das angefochtene Urteil sich auch konkret mit der Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr des Klägers in den Kosovo auseinander. Das Verwaltungsgericht ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger, dessen Familienangehörigen in Deutschland leben, zwar aufgrund dieser familiären Kontakte mit den Sitten und Gebräuchen seines Heimatlandes vertraut ist und er auch die dortigen Landessprachen beherrscht, andererseits aber eine reale Beziehung zu dem Land, in dem er seit 1991 nicht mehr gewesen ist, nicht besteht. Der Zulassungsantrag räumt ein, dass der Kläger nach einer Übersiedlung in den Kosovo zwar sicherlich mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen hätte. Er teile damit aber das Schicksal einer Vielzahl von Bürgerkriegsflüchtlingen, die in der Bundesrepublik aus humanitären Gründen langjährig Aufnahme gefunden hätten und die nunmehr in das Land ihrer Staatsangehörigkeit zurückkehren sollten. Diese abstrakten Erwägungen der Beklagten werden ersichtlich dem Gewicht, das im vorliegenden Fall die nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schutzwürdigen Bindungen des Klägers besitzen, nicht gerecht.

(6) Hinsichtlich der Sicherung des Lebensunterhalts hat das Verwaltungsgericht im Rahmen des vorliegenden Verfahrens zu Recht nur die Verhältnisse des Klägers in die Prüfung einbezogen. Im vorliegenden Verfahren geht es darum, ob der Kläger in seiner Person die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen Verwurzelung erfüllt. Ob und gegebenenfalls in welcher Weise die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis an den Kläger die aufenthaltsrechtliche Position seiner vier Kinder sowie der Kindesmutter beeinflusst, ist in deren ausländerrechtlichen Verfahren zu prüfen und zu entscheiden. [...]