LG Hannover

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Zitieren als:
LG Hannover, Beschluss vom 03.09.2010 - 8 T 44/10 - asyl.net: M17876
https://www.asyl.net/rsdb/M17876
Leitsatz:

Rechtswidrige Verlängerung der Abschiebungshaft wegen Nichteinhaltung der Drei-Monats-Frist (§ 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG), da die Ausländerbehörde den Betroffenen nicht darauf hingewiesen hat, dass die Beantragung eines neuen italienischen Reiseausweises (Dokumento di Viaggio) die Abschiebung beschleunigt hätte. Ein solcher Hinweis ist dann geboten, wenn zu erwarten ist, dass ein für die Rückführung (hier nach Italien) ausreichender neuer Ausweis schneller zu erlangen ist als die ansonsten erforderliche Rückführungszustimmung der zuständigen ausländischen Behörde.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Italien, Reiseausweis für Flüchtlinge, Rückübernahmeabkommen, Drei-Monats-Frist, Verlängerungsantrag, Vertretenmüssen, Beschleunigungsgebot, Mitwirkungspflicht
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
Auszüge:

[...]

1. Das Amtsgericht hätte wegen Nichteinhaltung der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG den Verlängerungsantrag ablehnen und die sofortige Haftbeendigung anordnen müssen. Nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG darf die Dauer der Haft drei Monate grundsätzlich nicht überschreiten. Die Verlängerung der Sicherungshaft über diesen Zeitraum hinaus ist unzulässig, wenn die Abschiebung aus Gründen unterbleibt, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind (BGH, a.a.O., juris-Rn. 23). Ein solcher Fall liegt hier vor.

a) Zwar ist dem Schreiben der Bundespolizei zu entnehmen, dass eine Rücknahmezustimmung des italienischen Ministeriums entbehrlich gewesen wäre und die Abschiebung schnell hätte vollzogen werden können, wenn der Betroffene ein gültiges Reisedokument besessen hätte. Dann hätte es der Haftverlängerung nicht bedurft. Es ist jedoch bereits zweifelhaft, ob das Fehlen eines gültigen Reisedokuments im Zeitpunkt des Aufgreifens durch die Polizei und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, ein neues Reisedokument zu beschaffen bzw. eine Zustimmungserklärung des Staates, in den die Ab- oder Zurückschiebung erfolgen soll, einzuholen, für sich ausreicht, um im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG ein Vertretenmüssen der Verzögerung bejahen zu können, wenn der Ausländer nichts unternommen hat oder unternimmt, um seine Identität zu verschleiern oder das Verfahren zur Beschaffung erforderlicher Dokumente zu behindern.

b) Ein Vertretenmüssen ist aber jedenfalls dann zu verneinen, wenn - wie hier nach den Angaben der Bundespolizei - der Ausländer das Rückführungsverfahren durch Beantragung eines neuen Ausweispapiers (Reisausweis) selbst beschleunigen könnte, ein solches Mitwirken des Ausländers nicht von vornherein aufgrund konkreter Umstände - beispielsweise ausdrückliche Erklärung, jegliche Mitwirkung zu verweigern - ausgeschlossen erscheint und die Ausländerbehörde (bzw. die sie im Abschiebungsverfahren unterstützende Polizei) gleichwohl einen entsprechenden Hinweis auf diese Möglichkeit der Beschleunigung der Abschiebung und damit Verringerung der Haftzeit unterlässt. Ein solcher Hinweis der Ausländerbehörde ist nämlich auch aufgrund des Beschleunigungsgebots geboten, wenn zu erwarten ist, dass ein für die Rückführung ausreichender neuer Ausweis schnell zu erlangen ist als die ansonsten erforderliche Rückführungszustimmung der zuständigen ausländischen Behörde.

Dass der Betroffene im vorliegenden Fall auf eine solche "Abkürzungsmöglichkeit" hingewiesen wurde, hat die Beteiligte weder vorgetragen noch ergeben sich dafür Anhaltspunkte aus dem Schreiben der Bundespolizeidirektion Koblenz oder der Ausländerakte. [...]