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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 21.10.2010 - V ZB 56/10 - asyl.net: M17863
https://www.asyl.net/rsdb/M17863
Leitsatz:

1. Für den Begriff der unerlaubten Einreise im Sinne des Haftgrundes des § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG) kommt es nicht auf ein willensgetragenes, zweckgerichtetes oder gar schuldhaftes Verhalten des Betroffenen an. Versehentliche Einreisen können daher genügen.

2. Eine unterbliebene Anhörung des Ehepartners vor der Haftanordnung kann bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens nachgeholt und damit geheilt werden.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zurückschiebungshaft, Zurückschiebung, Ausreisepflicht, Bundespolizei, Anhörung, Ehegatte, Heilung, Amtsermittlung, Haftgründe, unerlaubte Einreise, freiwillige Ausreise, familiäre Beistandsgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot, Dublin II-VO, Polen, Dolmetscher, Kostenerstattung
Normen: AufenthG § 71 Abs. 3 Nr. 1, BPolG § 2 Abs. 2 Nr. 3, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, FamFG § 29, FamFG § 26, ZPO § 383 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 3, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2, GG Art. 104, EMRK Art. 5 Abs. 1
Auszüge:

[...]

2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde drückt der Umstand, dass das Amtsgericht die Ehefrau des Betroffenen nicht vor der Entscheidung angehört hat, der Haftanordnung nicht den Stempel der Rechtswidrigkeit mit der Folge auf, dass ein darin liegender Rechtsfehler nicht mehr geheilt werden könnte. Anders als bei der unterbliebenen Anhörung nach § 420 Abs. 1 FamFG (vgl. dazu nur BVerfG, InfAuslR 2006, 462, 464), durch die dem Betroffenen das Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2661) vorenthalten und damit eine essentielle Verfahrensgarantie als solche missachtet wird (Senat, Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, juris, Rn. 11), stellt die fehlende oder unzureichende Beteiligung der Ehefrau keine vergleichbar gravierende Verfahrenswidrigkeit dar. Sie kann daher grundsätzlich - so nicht auch die Ehefrau abgeschoben worden ist oder vergleichbare Hinderungsgründe einer Anhörung entgegenstehen - noch bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens nachgeholt und damit geheilt werden (vgl. auch OLG Celle, InfAuslR 2005, 423, 424 zu § 5 Abs. 3 FEVG). Das ist hier geschehen. Das Beschwerdegericht hat die Ehefrau an dem Verfahren beteiligt und deren Anhörung angeordnet. Dass die Ehefrau von ihrem Recht Gebrauch gemacht hat, keine Angaben zu machen (§ 29 FamFG i.V.m. einer entsprechenden Anwendung von § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO), führt lediglich dazu, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung nach § 26 FamFG nicht mehr möglich und deshalb auf der Grundlage des sonstigen Tatsachenstoffes zu entscheiden gewesen ist. So ist das Beschwerdegericht verfahren.

3. Auch im Übrigen hält sowohl die Anordnung als auch die Aufrechterhaltung der Haft der auf Rechtsfehler beschränkten Überprüfung durch den Senat stand. Hervorzuheben ist:

a) Zu Recht bejaht hat das Beschwerdegericht jedenfalls den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.

aa) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde wäre der Betroffene - selbst wenn er in die Bundesrepublik infolge Verschlafens nicht aufgrund eines willensgetragenen Verhaltens gelangt sein sollte - unerlaubt eingereist im Sinne der genannten Bestimmung. Denn in dem hier in Rede stehenden Regelungszusammenhang kommt es für den Begriff der Einreise nicht auf ein willensgetragenes, zweckgerichtetes oder gar schuldhaftes Verhalten des Betroffenen an. Ob eine Einreise vorliegt, ist allein nach objektiven Kriterien zu bestimmen (vgl. VG Frankfurt, InfAuslR 1996, 367, 368; vgl. auch Nr. 13.1.1 u. 13.7 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, GMBl. 2009, 877, 964). Auch bei einer nicht willensgetragenen oder nur versehentlichen Verlagerung des Aufenthaltsorts in das Bundesgebiet kommt nämlich das gesetzgeberische Anliegen zum Tragen, über die Inhaftierung des Betroffenen dessen alsbaldige Zurückschiebung zu sichern. [...]