VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 04.11.2010 - 19 ZB 10.1528 - asyl.net: M17857
https://www.asyl.net/rsdb/M17857
Leitsatz:

Es erscheint zweifelhaft, ob die Kläger nicht bereits bei ihrer Vorsprache bei der deutschen Botschaft in Kiew im Sommer 2007 einen Antrag auf (erneute) Erteilung einer Aufnahmezusage als jüdische Kontingentflüchtlinge wirksam gestellt haben, auch wenn ihnen seinerzeit nur ein Termin für eine Antragstellung gegeben wurde. Zum einen fehlt es für die Verpflichtung zur Verwendung von Antragsformblättern an der gesetzlichen Grundlage. Zum anderen kommt ein Fall behördlich verursachter Fristversäumung in Betracht, die dazu führt, dass die Antragstellung zu dem Zeitpunkt zu fingieren ist, zu dem der Antrag ohne die zur Verfristung führenden Umstände rechtzeitig gestellt worden wäre. Möglich wäre auch die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 32 VwVfG) oder eine rückwirkende Verlängerung der Frist gemäß § 31 Abs. 7 VwVfG von Amts wegen.

Schlagwörter: jüdische Kontingentflüchtlinge, Berufungszulassung, Aufnahmeantrag, ernstliche Zweifel, Antragserfordernis, Antrag, Frist, Ausschlussfrist, Fristversäumnis, Fristverlängerung, Formerfordernis, Ermessen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, BGB § 242, BGB § 162, VwVfG § 32, VwVfG § 37 Abs. 7
Auszüge:

[...]

2. Der Zulassungsantrag ist auch begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts begegnet ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wie sich im Einzelnen aus folgendem ergibt:

a) Die Kläger haben bereits im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens mit Schriftsatz vom 1. April 2010 (vgl. Bl. 24 der VG-Akte) geltend gemacht, dass sie schon im Juni bzw. Juli 2007 Aufnahmeanträge bei der Deutschen Botschaft in Kiew gestellt haben, obgleich die Einreichung der Antragsunterlagen selbst erst am 5. Februar 2008 anlässlich des an diesem Tage eingeräumten Termins in der Botschaft stattgefunden habe. Auch wenn nach der Stellungnahme der Botschaft vom 11. Mai 2010 (vgl. Bl. 36 der VG-Akte) keine schriftlichen Aufzeichnungen über den Tag der Terminvergabe geführt wurden, sondern lediglich der Termin selbst - hier der 5. Februar 2008 - in einem Kalenderbuch festgehalten wurde und der Nachweis einer Antragstellung mit Terminvereinbarung im Juni bzw. Juli 2007 seitens der Botschaft deshalb nicht belegt werden kann, steht doch gleichwohl fest, dass aufgrund eines in den Jahren 2005 bis 2006 unterbrochenen Aufnahmeverfahrens im Zeitraum 2007 bis 2008 eine durchweg hohe Anzahl von Terminen vereinbart wurde und es aufgrund des hohen Andrangs zu längeren - teilweise monatelangen - Wartezeiten für die Abgabe der Antragsunterlagen kam. Ein von der Botschaft in diesem Zusammenhang als exemplarisch angeführter Fall, in dem ein ursprünglich für November 2007 angesetzter Termin auf Juni 2007 vorgezogen wurde, macht deutlich, dass zwischen Terminabsprache bzw. Antragseingang und dem Zeitpunkt der förmlichen Abgabe der Antragsunterlagen in der Botschaft durchaus ein Zeitraum von fünf Monaten liegen konnte (vgl. Stellungnahme des Verbindungsbeamten des Bundesamtes in der Botschaft in Kiew vom 11. Mai 2010 (Bl. 36 f. der VG-Akte).

b) Mit diesem Sachverhalt setzt sich weder der Bundesamtsbescheid vom 3. November 2009 noch die Antragserwiderung vom 1. September 2010 auseinander. Dort wird alleine auf die in Ziffer II 4 Satz 3 der Verfahrensanordnung vom 24. Mai 2007 W.F. vom 22. Juli 2009 festgelegte Frist für eine Antragstellung - den 31. Dezember 2007 - abgestellt und die Auffassung vertreten, der erst am 5. Februar 2008 eingegangene Antrag sei damit verfristet. Letzteres begegnet aufgrund der im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht zu Tage getretenen, in der Botschaft in Kiew im Zusammenhang mit der Antragstellung herrschenden Praxis durchgreifenden rechtlichen Bedenken, wie sich aus folgender (Alternativ-)Betrachtung ergibt:

aa) Wirksame Antragstellung bereits im Sommer 2007

aaa) Da die Verfahrensanordnung des BMI vom 24. Mai 2007 i.d.F. vom 22. Juli 2009 keine besonderen Formerfordernisse für die Antragstellung vorsieht und es sich bei der Aufnahmezusage um einen Verwaltungsakt handelt, auf den das Verwaltungsverfahrensgesetz Anwendung findet, gilt für die Antragstellung der Grundsatz der Formlosigkeit (vgl. Kopp/Ramsauer VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RdNr. 31). Anträge können deshalb, da durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt ist, nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich und damit sogar telefonisch gestellt werden (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RdNr. 31 m.w.N.). Ein Mindestinhalt oder gar eine Begründung des Antrags ist weder in der Verfahrensanordnung noch im Verwaltungsverfahrensgesetz vorgesehen. Ein Antrag im Rechtssinne liegt daher entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auf Seite 7 der angefochtenen Entscheidung und der Ansicht der Beklagten in der Antragserwiderung vom 1. September 2010 bereits dann vor, wenn ein Bürger in einer für eine Behörde erkennbaren Weise - ausdrücklich oder konkludent - einen auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichteten Willen zum Ausdruck bringt und damit definitiv eine Bescheidung eines bestimmten Begehrens erstrebt (vgl. BVerwGE 9, 89 [92]; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RdNr. 35 m.w.N.). Weitergehende Anforderungen können sich aus besonderen Rechtsvorschriften oder aus der Natur der Sache ergeben; auch in diesen Fällen genügt es jedoch, wenn die erforderlichen Angaben jeweils bis zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde nachgebracht werden (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 22 RdNr. 35). Die Wirksamkeit der ursprünglichen Antragstellung bleibt hiervon unberührt.

bbb) Gemessen an diesem Maßstab erscheint zweifelhaft, ob die Kläger nicht bereits anlässlich der Vorsprache im Juni bzw. Juli 2007 unter Nennung ihres Begehrens - nämlich der (erneuten) Erteilung einer Aufnahmezusage als jüdische Kontingentflüchtlinge - einen wirksamen Antrag auf Erteilung einer Aufnahmezusage gestellt haben, auch wenn die entsprechenden Formulare erst anlässlich der erneuten Vorsprache in der Botschaft am 5. Februar 2008 ausgefüllt und die entsprechenden Dokumente zum Nachweis der Richtigkeit der abgegebenen Erklärungen vorgelegt wurden. Dass anlässlich der mündlichen Antragstellung im Juni bzw. Juli 2007 - entsprechend der Art und Weise der Antragstellung - die vom Bundesamt entwickelten Formblätter nicht verwandt wurden, kann den Klägern nicht entgegen gehalten werden. Zum einen fehlt es für die Verpflichtung zur Verwendung von Formblättern an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage, zum anderen könnte selbst das Bestehen einer solchen Verpflichtung - ähnlich wie bei einem Schriftformerfordernis - nicht zum materiell-rechtlichen Ausschluss eines Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung führen (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, §22 RdNrn. 34 und 32).

bb) Behördlich verursachte Fristversäumung

Aber auch dann, wenn man mit dem Bundesamt davon ausgehen würde, dass die Kläger ihren (erneuten) Antrag auf Erteilung einer Aufnahmezusage nicht bereits im Juni bzw. Juli 2007, sondern erst am 5. Februar 2008 gestellt haben, könnte der angefochtene Bescheid vom 3. November 2009 keinen Bestand haben.

aaa) Es entspricht allgemeiner Rechtsauffassung, dass sich Behörden nach dem Rechtsgedanken der §§ 242, 162 BGB nicht auf die Versäumung einer die Rechtsverfolgung hindernden oder die Anspruchsberechtigung vernichtenden Ausschlussfrist berufen dürfen, wenn die Wahrung der Frist infolge von Umständen unmöglich wurde, die in ihrem eigenen Verantwortungsbereich wurzeln (vgl. BVerwG, Buchholz 112 § 30 a VermG Nr. 1 Satz 1 m.w.N.; BVerwG, Buchholz 428 § 30 a VermG Nr. 2 S. 2 [S. 7] m.w.N.; BVerwG, U.v. 18.4.1997 - 8 C 38/95 -, NJW 1997, 2966 [2969]; ebenso: BGH, NVwZ 1985, 938 [9391; BSGE 32, 60 [62]; BFHE 86, 148 [151]).

In diesen Fällen ist entsprechend dem Rechtsgedanken des § 162 BGB entweder die Antragstellung zu dem Zeitpunkt zu fingieren, zu dem der Antrag ohne die zur Verfristung führenden Umstände rechtzeitig gestellt worden wäre, so dass die Ausschlussfrist in einem solchen Fall als gewahrt anzusehen ist (BVerwGE 9, 89 [91 ff.]; BVerwG, U.v. 18.4.1997 - 8 C 38/95 -, NJW 1997, 2966 [2969]; BGH, NJW 1995, 205 [206] und NVwZ 1995, 939 [939]; BFHE 86, 148 [151]; BSGE 32, 60 [62]) oder gemäß § 32 VwVfG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzw. sogenannte Nachsicht oder rückwirkende Verlängerung der Frist gemäß § 31 Abs. 7 VwVfG von Amts wegen ohne Antrag zu gewähren (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 31 RdNr. 27, 13 und 38).

bbb) Gemessen an diesen Maßstäben bedarf keiner weiteren Darlegung, dass im Zusammenhang mit der - auch nachträglichen - Bestimmung einer Ausschlussfrist zwischen der Terminvereinbarung und der förmlichen Stellung des Antrags nicht ein Zeitraum von mehr als 5 Monaten verstreichen darf, ohne dass die Behörde einer insoweit unverschuldeten Fristversäumnis der Antragsteller durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen Rechnung trägt. Dass im Zeitpunkt der Antragstellung - gleichviel ob im Sommer 2007 oder am 5. Februar 2008 - noch niemand wissen konnte, dass es im Juli 2009 zu einer rückwirkenden Stichtagsregelung für die Zulassung von Zweitanträgen bis zum 31. Dezember 2007 kommen würde, hat insoweit keine Bedeutung. Entscheidend ist allein, dass im Zeitpunkt der Verbescheidung des Begehrens der Antragsteller, also bei Erlass des Bescheides am 3. November 2009, sowohl die Ausschlussfrist (31. Dezember 2007) als auch die im Laufe des Jahres 2007 in der Deutschen Botschaft in Kiew herrschenden Umstände hinsichtlich der Bearbeitung der eingehenden Anträge bekannt waren (vgl. Stellungnahme des Verbindungsbeamten des Bundesamtes in der Botschaft in Kiew vom 11. Mai 2010, Bl. 36 f. der VG-Akte). In einem solchen Fall hätte bei Erlass des Bescheides am 3. November 2009 von Amts wegen Wiedereinsetzung in die dann von den Antragstellern am 5. Februar 2008 unverschuldet versäumte Frist vom 31. Dezember 2007 gewährt werden müssen. Denn wäre den Antragstellern bereits im Jahr 2007 ein Termin zur Abgabe ihrer Antragsunterlagen eingeräumt worden, so hätten sie die Ausschlussfrist ohne jeden Zweifel gewahrt. Dass Letzteres nun - jedenfalls unter Zugrundelegung einer Wirksamkeit der Antragstellung erst am 5. Februar 2008 - nicht der Fall ist, wurzelt im alleinigen Verantwortungsbereich der Beklagten. Die Kläger tragen hierfür keinerlei Verantwortung. [...]