VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 20.09.2010 - 6 L 919/10 - asyl.net: M17848
https://www.asyl.net/rsdb/M17848
Leitsatz:

Aus der nach der Einreise in das Bundesgebiet erfolgten Eheschließung mit einem Ausländer, der über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt, ergibt sich weder eine Sondersituation, die ein Absehen von § 34a Abs. 2 AsylVfG rechtfertigt, noch ist deshalb ein Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung zwingend geboten.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Eheschließung, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Konzept der normativen Vergewisserung, Schutz von Ehe und Familie, Familiennachzug, Ehegattennachzug, Visumsverfahren, Selbsteintritt, Humanitäre Klausel, Ermessen, subjektives Recht, Zumutbarkeit, familiäre Lebensgemeinschaft
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 15 Abs. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

[...]

Aus der nach der Einreise in das Bundesgebiet eingegangenen Ehe mit einem türkischen Staatsangehörigen, der über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt, ergibt sich keine Sondersituation, die ausnahmsweise ein Absehen von der erwähnten Regelung in § 34 a Abs. 2 AsylVfG rechtfertigen würde.

Die Antragstellerin kann sich insbesondere nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Antragsgegnerin nicht von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht hat. Der Bescheidentwurf vom 27.07.2010 enthält eine ausdrückliche Ablehnung des Selbsteintritts mit der Begründung, dass außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO auszuüben, nicht ersichtlich seien. Dies bedeutet, dass die Beklagte vor Erlass der Abschiebungsanordnung die Voraussetzungen für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geprüft hat. Zwar war der Umstand, dass die Antragstellerin am 22.07.2010 die Ehe mit einem türkischen Staatsangehörigen, der über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt, eingegangen ist, der Antragsgegnerin zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Bescheides noch nicht bekannt. Die Antragsgegnerin hat jedoch in ihrer Antragserwiderung eindeutig zu erkennen gegeben, dass sie der Tatsache der Eheschließung keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen will, da die Antragstellerin nur zum Zweck der Eheschließung eingereist sei und die Stellung des Asylantrags offensichtlich nur zur Umgehung des ausländerrechtlich vorgesehenen Verfahrens zur Familienzusammenführung gedient habe. Aus diesen - im gerichtlichen Verfahren zulässigerweise nachgeschobenen - Ermessenserwägungen ergibt sich zweifelsfrei, dass die Antragsgegnerin auch weiterhin nicht von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen gedenkt.

Die Antragstellerin hat weder einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts noch einen Anspruch auf eine diesbezügliche, erneute Überprüfung glaubhaft gemacht. Ob und inwieweit die eine Zuständigkeit der Mitgliedstaaten betreffenden Vorschriften der Dublin IIVO subjektive Rechte eines Asylbewerbers begründen, deren Verletzung gerügt werden kann, oder ob es sich dabei um ein bloßes Recht des einzelnen Unterzeichnerstaates des Dubliner Übereinkommens im Verhältnis zu den anderen Unterzeichnerstaaten handelt (vgl. zum Streitstand etwa VG München, Urteil vom 30.05.2008 - M 16 K 07 -, sowie VG Ansbach - AN 19 K 08.30206 -, jeweils bei Juris), kann dahinstehen. Gründe, die die Antragsgegnerin verpflichten könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen oder auch nur eine erneute Prüfung vorzunehmen, liegen nicht vor.

Die Antragstellerin kann sich in diesem Zusammenhang nicht mit Erfolg auf Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO berufen. Danach kann jeder Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. Allein die Eheschließung stellt keinen humanitären Belang von solchem Gewicht dar, dass ein Selbsteintritt der Antragsgegnerin zwingend geboten wäre. Vielmehr ist es der Antragstellerin schon deshalb zuzumuten, ihr Asylverfahren in Italien zu betreiben und den Ausgang abzuwarten, da sie auch bislang nicht mit ihrem jetzigen Ehemann, bis auf die kurze Zeit nach ihrer Einreise, zusammengelebt hat (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 28.12.2009 - 7 A 122/08 -, bei Juris).

Diese für das Asylverfahren getroffene Bewertung steht im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung im Ausländerrecht, wonach einem Ausländer, der ohne das erforderliche Visum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und keinen strikten Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat, es selbst dann grundsätzlich zugemutet werden kann, das Visumverfahren nachzuholen, wenn er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist. Eine auch nur vorübergehende Trennung von dem Ehepartner ist nur dann unzumutbar, wenn weitere besondere Umstände im Einzelfall vorliegen, etwa wenn einer der Ehegatten aufgrund individueller Besonderheiten, etwa in Folge einer Krankheit, mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen ist. Allein der Umstand der Eheschließung ist insoweit auch angesichts des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 GG, Art. 8 EMRK nicht ausreichend (vgl. OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 27.02.2009 - 2 B 469/08 - und vom 22.07.2008 - 2 B 257/08 -, OVG Lüneburg, Beschluss vom 01.03.2010 - 13 ME 3/10 -, sowie OVG Magdeburg, Beschluss vom 25.09.2008 - 2 M 184/08 -, jeweils bei Juris).

Dieser Rechtsprechung liegt die Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. AufenthG zugrunde, wonach von dem Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum abgesehen werden kann, wenn es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Diese Regelung ist anerkanntermaßen als Ausnahmebestimmung prinzipiell eng auszulegen. Hiervon ausgehend ist es - bei vergleichender Betrachtung - nicht zu beanstanden, wenn die Antragsgegnerin die Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts für das Asylverfahren nach den §§ 3 Abs. 2, 15 Abs. 1 Dublin II-VO davon abhängig macht, dass außergewöhnliche humanitäre Gründe vorliegen. Dies stellt ebenso eine zulässige Ermessenserwägung dar wie der Hinweis darauf, dass es der Antragstellerin grundsätzlich zumutbar ist, die Familienzusammenführung vom Ausland aus zu betreiben. Dies gilt insbesondere dann, wenn - wie hier - einiges dafür spricht, dass die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland unter Umgehung der Grenzkontrollen nur zum Zweck der Eheschließung erfolgt ist. In solchen Fällen gilt es dem Eindruck bei anderen Ausländern entgegenzuwirken, man könne durch eine Einreise unter bewusstem Verstoß gegen Rechtsvorschriften stets vollendete Tatsachen schaffen. Ein bewusst gesetzwidriges Verhalten darf nicht noch zusätzlich honoriert werden. Die Frage, wo die eheliche Lebensgemeinschaft zu verwirklichen sein wird, ist demgegenüber nachrangig zu gewichten, zumal es nicht von vorneherein ausgeschlossen ist, dass die Ehe auch in der Türkei - dem Heimatstaat beider Ehepartner - möglich ist. Die durch eine Übernahme des Asylverfahrens durch Italien bedingten Unannehmlichkeiten für die Antragstellerin und die Notwendigkeit, vom Ausland aus über das Visumverfahren die Familienzusammenführung mit ihrem Ehepartner zu betreiben, sind auch mit Blick auf den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK hinzunehmen. [...]