VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 03.11.2010 - 5 K 402/10 TR - asyl.net: M17843
https://www.asyl.net/rsdb/M17843
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für afghanische Frau nach Entführungsversuchen bei mangelnder Schutzfähigkeit afghanischer staatlicher Stellen. In der Region Herat werden aufgrund eines ausgeprägt traditionellen Verhaltenskodex Mädchen und Frauen in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit besonders stark eingeschränkt.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, Frauen, soziale Gruppe, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, interne Fluchtalternative, Herat
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

[...]

Voraussetzung für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Gericht ist aufgrund der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin Nachstellungen in ihrem Heimatland ausgesetzt gewesen ist. Die Klägerin und ihre Schwester haben nahezu deckungsgleich in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, sie seien mehrmals in Afghanistan angegriffen worden. Einmal - so die Klägerin - seien sie drei Jahre vor der Ausreise angegriffen worden, ein zweites Mal drei Monate vor der Ausreise. Der erste Entführungsversuch habe sich auf dem Rückweg von der Schule ereignet. Von diesem Zeitpunkt an sei sie nicht mehr in die Schule gegangen. Bei dem zweiten Vorfall sei sie mit ihrer Schwester auf der Straße gewesen. Die Klägerin konnte in der mündlichen Verhandlung auf Befragen des Gerichts auch einzelne Umstände der Begebenheit genauer beschreiben. Ihre Angaben decken sich insbesondere auch mit derjenigen ihrer Schwester, der Klägerin im Verfahren 5 K 419/10.TR. Die Klägerin und ihre Schwester wurden dabei in der mündlichen Verhandlung getrennt voneinander zu den Umständen ihrer Verfolgungen befragt.

Zu beachten ist, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (§ 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zu sehen ist weiterhin, dass eine Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, sofern Staat oder Parteien einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG). Das Gericht kann sich nach den vorliegenden Auskünften keine ausreichende Überzeugung davon verschaffen, dass staatliche Stellen im Heimatland der Klägerin ihre Sicherheit ausreichend gewährleisten kann. So führt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. Juli 2010 aus, bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz werde die afghanische Nationalpolizei ihrer Aufgabe nicht gerecht. Viele Polizisten der einfachen Dienstgrade seien Analphabeten, ihr Ausbildungsstand sei niedrig, das Ausmaß der Korruption sei hoch, was auch eine Folge der schlechten Bezahlung sei. Die Loyalität einzelner Polizeikommandeure gelte oftmals weniger dem Staat als lokalen bzw. regionalen Machthabern (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. Juli 2010, S. 12). In der öffentlichen Wahrnehmung sei die afghanische Nationalpolizei kein Stabilitäts-, sondern an vielen Orten eher ein Unsicherheitsfaktor, in den die Bevölkerung wenig Vertrauen setze. Die Polizeikräfte in Afghanistan sind daher derzeit kaum in der Lage, hinreichenden Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Auch besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 S. 4 2. Halbs. AufenthG). Ob eine Person sich einer möglichen Gefährdung durch ein Ausweichen im Land entziehen kann, hängt nach dem bereits zitierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes maßgeblich von dem Grad ihrer sozialen Vernetzung sowie von der Verwurzelung im Familienverband oder Ethnie ab (vgl. Lagebericht, a.a.O.). Die Klägerin stammt aus Herat. Wie die Klägerin sowie ihre Schwester in der mündlichen Verhandlung erläutert haben, wohnen ihre Geschwister mehrheitlich in Europa. Als verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkt kommt mithin allein eine Schwester der Klägerin in Betracht, die in Ostafghanistan leben soll. Aufgrund des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes kann sich die Kammer jedoch keine Überzeugung davon verschaffen, dass ein im Osten von Afghanistan gelegener Ort sicherer ist als derjenige, aus dem die Klägerin stammt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Klägerin einer politischen Verfolgung in ihrem Heimatland ausgesetzt war. Es kann auch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland unverfolgt bleibt. Hierbei ist auch auf die Besonderheiten in der Region Herat abzustellen, aus der die Klägerin stammt. Hier werden traditionell Mädchen und Frauen in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit aufgrund eines ausgeprägt traditionellen Verhaltenskodex besonders stark eingeschränkt. Es kann von daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland wiederum Übergriffen wegen ihres Geschlechts ausgesetzt sein wird (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 28). [...]