VG Freiburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Freiburg, Beschluss vom 04.10.2010 - A 4 K 1705/10 - asyl.net: M17823
https://www.asyl.net/rsdb/M17823
Leitsatz:

Allein dadurch, dass das Bundesamt den Asylantragsteller zu dem Reiseweg und den Verfolgungsgründen anhört, wird die Bundesrepublik Deutschland nicht im Wege des so gen. Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zuständig, wenn sich die Befragung zu den Verfolgungsgründen unmittelbar und nahtlos an die Befragung zu der Herkunft und den Umständen der Einreise anschließt und das Bundesamt den Vorgang im Anschluss an die Anhörung nicht sachlich weiter bearbeitet, sondern unmittelbar zur Bestimmung des nach der

Dublin-II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats übergeht.

Nach den Art. 19 Abs. 4 Satz 2, 20 Abs. 2 Dublin-II-VO muss eine Verlängerung der Frist für die Übernahme eines Asylbewerbers über sechs Monate hinaus zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich erfolgen. Besteht zwischen den Mitgliedstaaten eine Übung, wonach der zuständige Mitgliedstaat eine schriftliche Mitteilung über den Grund für die nicht fristgemäße Überstellung akzeptiert und nach Fristablauf noch vollzieht, kann hierin eine

konkludente Zustimmung erblickt werden, wenn diese Mitteilung vor Fristablauf bei ihm eingeht und der Mitgliedstaat regelmäßig dann, wenn er die Mitteilung nicht billigt, unverzüglich widerspricht. Dahingestellt bleiben kann in einem solchen Fall, ob die bloße Information des anderen Mitgliedstaats über den Grund der Verlängerung allein genügt.

Die Rechtsstellung des Einzelnen wird durch das Zuständigkeitssystem der Dublin-IIVerordnung nur insoweit geschützt, als jedenfalls ein zuständiger Vertragsstaat für die Prüfung des Asylbegehrens eines Drittstaatsangehörigen gewährleistet sein muss. Ein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens in einem bestimmten Mitgliedstaat besteht grundsätzlich nicht. Ausnahmen gelten allenfalls im Hinblick auf einzelne Vorschriften, die z. B. den Schutz (unbegleiteter) Minderjähriger oder die Einheit der Familie betreffen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Slowenien, Abänderungsantrag, Anhörung, Selbsteintritt, Überstellungsfrist, Rechtsschutzinteresse, Untertauchen, Fristverlängerung, subjektives Recht, unbegleitete Minderjährige, Familieneinheit
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 16a Abs. 2 S. 3, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2
Auszüge:

[...]

2.1 Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist die Antragsgegnerin nicht allein dadurch, dass sie den Antragsteller am 24.02.2009 zu seinem Reiseweg und (bei dieser Gelegenheit auch) zu den Asylgründen angehört hat, im Wege des so genannten Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zuständig geworden. Allein durch die Anhörung eines Asylantragstellers bringt das Bundesamt noch nicht zum Ausdruck, die Bundesrepublik Deutschland habe bereits den Entschluss gefasst, von ihrem Recht (nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO) Gebrauch zu machen, das Asylverfahren abweichend vom Regelfall insgesamt in eigener Verantwortung durchzuführen, zumal dann nicht, wenn sich, wie das bei dem Antragsteller der Fall war, die Befragung zu den Gründen der Verfolgungsfurcht unmittelbar und nahtlos an die Befragung zu der Herkunft und den Modalitäten der Einreise anschließt und das Bundesamt den Vorgang im Anschluss an die Anhörung nicht sachlich weiter bearbeitet, sondern unmittelbar intern zur Bestimmung des nach der Dublin-II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats weiterleitet (so u.a. Bayer. VGH, Beschluss vom 03.03.2010 - 15 ZB 10.30005 -; VG Darmstadt, Beschluss vom 21.01.2010 - 4 L 36/10.A -; VG München, Beschluss vom 25.05.2009 - M 4 S 09.60039 -; VG Münster, Beschluss vom 04.03.2009 - 9 L 77/09 - ; VG Ansbach, Urteil vom 13.01.2009 - 3 K 08.30017 -; VG Saarland, Urteil vom 24.09.2008 - 2 K 94/08 -, m.w.N.; VG Trier, Urteil vom 21.05.2008 - 2 K 48/08 -; VG Karlsruhe, Urteil vom 18.03.2003 - A 5 K 12106/99 -; vgl. ferner Hailbronner, a.a.O., Band 3, B 2, § 27a AsylVfG, RdNr. 64 m.w.N.; Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand: Juni 2010, Band 2, § 27a RdNr. 220 m.w.N.; a. A. VG Hamburg, Beschluss vom 20.08.2008 - 8 AE 356/08 - sowie - in einem besonders gelagerten Einzelfall - VG Wiesbaden, Urteil vom 10.03.2010 - 7 K 1389/09 -; die frühere a. A. des VG Darmstadt, Urteil vom 16.10.2008 - 4 E 1120/06.A -, ist von demselben Spruchkörper im Beschluss vom 21.01.2010, a.a.O., ausdrücklich aufgegeben worden).

2.2 Ein Vollzug der angegriffenen Abschiebungsanordnung verstößt auch nicht gegen die Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 2 Dublin-II-VO. Nach diesen Vorschriften geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf 18 Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Die Frist nach dieser Vorschrift ist im Fall des Antragstellers noch nicht abgelaufen. Da er nach Lage der Akten (spätestens) am 18.09.2009 und damit vor Ablauf von sechs Monaten seit der Übernahmeerklärung des Staates Slowenien vom 08.04.2009 untergetaucht und eine damals bereits angelaufene Abschiebung deshalb abgebrochen worden ist, gilt für ihn nach den Art. 19 Abs. 4 Satz 2, 20 Abs. 2 Dublin-II-VO die Frist von 18 Monaten (ab dem 08.04.2009), die in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht abgelaufen ist. Aus dem Wortlaut der Art. 19 Abs. 4 Satz 2, 20 Abs. 2 Dublin-II-VO ist allerdings zu schließen, dass im Hinblick auf eine Fristverlängerung eine einvernehmliche Regelung zwischen den jeweils betroffenen Mitgliedstaaten getroffen werden muss, um einen Fristablauf nach sechs Monaten zu verhindern. Ob die bloße Information des anderen Mitgliedstaats über den Grund der Verlängerung allein genügt, kann hier dahingestellt bleiben ( so u.a. VG Stuttgart, Urteil vom 05.07.2005 - A 15 K 11058/05 -; Hailbronner, a.a.O., Band 3, § 27a AsylVfG RdNr. 75 ). Denn jedenfalls kann der andere Mitgliedstaat dem Verlängerungsersuchen auch konkludent zustimmen, was letztlich auch in der Form des Schweigens erfolgen kann. Besteht nämlich zwischen den jeweils betroffenen Mitgliedstaaten eine entsprechende Übung, die dahin geht, dass der jeweils zuständige Mitgliedstaat eine schriftliche Mitteilung über den Grund für die nicht fristgemäße Überstellung akzeptiert und dann auch noch nach Fristablauf die Übernahme vollzieht, so kann hierin eine konkludente Zustimmung erblickt werden, wenn diese Mitteilung vor Fristablauf bei ihm eingeht und der Mitgliedstaat regelmäßig dann, wenn er die Mitteilung nicht billigt, unverzüglich widerspricht (so Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a RdNrn. 261 f. m.w.N.; siehe auch Thür. OVG, Beschluss vom 28.12.2009 - 3 EO 469/09 - m.w.N.).

Nach diesen Grundsätzen ist die Überstellungsfrist im Fall des Antragstellers wirksam auf 18 Monate verlängert worden. So ergibt sich aus den von der Antragsgegnerin übersandten Unterlagen, dass der slowenische Staat vom Bundesamt stets (in deutscher und englischer Sprache) über die Gründe für die ausbleibende Überstellung des Antragstellers in Kenntnis gesetzt worden ist, so mit Fax-Schreiben vom 21.09.2009, in dem ausgeführt ist, dass die bereits organisierte Überstellung vorübergehend ausgesetzt wurde, weil der Antragsteller untergetaucht ist. Nach dem Wiederauftauchen des Antragstellers im September 2010 hat das Bundesamt dies dem slowenischen Staat mit Faxschreiben vom 23.09.2010 mitgeteilt und gleichzeitig über die Absicht einer (kontrollierten) Überstellung des Antragstellers informiert. Dem hat der slowenischen Staat nicht widersprochen. Das bedeutet nach den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs im Rahmen der Dublin-II-Verordnung und insbesondere zwischen der Antragsgegnerin und Slowenien, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist im Sinne der Art. 19 Abs. 4 Satz 2, 20 Abs. 2 Dublin-II-VO wirksam vereinbart worden ist.

2.3 Das Vorliegen der für die Anwendung von § 34a AsylVfG erforderlichen Voraussetzung einer Zuständigkeit Sloweniens zur Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG und der Dublin-II-Verordnung kann der Antragsteller auch nicht mit der Behauptung in Zweifel ziehen, er sei nach seiner Asylantragstellung in Slowenien im Jahr 2008 nicht gleich nach Deutschland weitergereist, sondern zunächst in seine Heimat, die Türkei, zurückgekehrt und erst im Januar 2009 erneut nach Deutschland gereist. Denn diese Behauptung vermag das Gericht ihm nicht abzunehmen. Der diesbezügliche Vortrag des Antragstellers ist in keiner Weise glaubhaft, weil von elementaren Widersprüchen gekennzeichnet. [...] Auch zeigt der Umstand, dass der Antragsteller, wie das vorliegende Verfahren zeigt, in dem Slowenien im Rahmen des Verfahrens nach der Dublin-IIVerordnung seine Bereitschaft zur Übernahme des Antragstellers erklärt hat, in Slowenien durchaus als Asylantragsteller registriert (worden) ist. Vielmehr mag der Grund dafür, dass der Antragteller Slowenien verlassen hat, ohne den Abschluss des Asylverfahrens abzuwarten, darin liegen, dass er einerseits seine Erfolgschancen in dem dortigen Asylverfahren als gering eingeschätzt hatte und dass er andererseits, wie er selbst mehrfach eingeräumt hatte, ohnehin seit jeher nur das Ziel verfolgt hat, nach Deutschland und in kein anderes Land der EU zu reisen. [...]

2.4 Der Antragsteller wäre aber auch ungeachtet der vorstehenden Ausführungen (unter 2.1 - 2.3) im Fall einer Verletzung einzelner Vorschriften der Dublin-II-Verordnung nicht in seinen Rechten verletzt. Denn die Rechtsstellung des Einzelnen wird durch das Zuständigkeitssystem der Dublin-II-Verordnung lediglich insoweit geschützt, als jedenfalls ein zuständiger Vertragsstaat für die Prüfung des Asylbegehrens eines Drittstaatsangehörigen gewährleistet sein muss. Demgemäß sind die im Dubliner Übereinkommen (und dementsprechend in der Dublin-II-Verordnung) niedergelegten Zuständigkeitsregeln an die Mitgliedstaaten adressiert und sehen Rechte und Pflichten für die EU-Mitgliedstaaten vor. Ein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens im zuständigen Mitgliedstaat besteht daher grundsätzlich nicht (vgl. hierzu Hailbronner, a.a.O., Band 3, § 27a AsylVfG RdNrn. 26 ff. m.w.N. zur ganz überwiegenden Auffassung in Lit. und Rspr.; siehe insbes. auch Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a RdNrn. 25 ff., 123 ff. und 263; ebenso - zum Dubliner Übereinkommen - VG Freiburg, Urteil vom 07.05.2002, AuAS 2003, 11, und Beschluss vom 15.08.2001, NVwZ-RR 2002, 227). Ausnahmen gelten allenfalls im Hinblick auf einzelne Vorschriften, die z. B. den Schutz (unbegleiteter) Minderjähriger oder die Einheit der Familie betreffen (vgl. hierzu im Einzelnen Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a RdNrn. 123 ff.), im Fall des Antragsteller aber nicht von Bedeutung sind. [...]