VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.10.2010 - 11 K 930/10 - asyl.net: M17821
https://www.asyl.net/rsdb/M17821
Leitsatz:

1. Anspruch auf Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit für einen über 40-jährigen türkischen Staatsangehörigen. Eine Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit scheitert daran, dass er in der Türkei keinen Wehrdienst geleistet und sich auch nicht davon "freigekauft" hat. Aus der früheren Ermessensermächtigung des § 12 Abs. 3 StAG 2004 ist ein Ausnahmegrund im Sinne von § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StAG 2007 geworden; die Rechtsposition des Einbürgerungsbewerbers hat sich insoweit durch die Novellierung verbessert. Damit soll dem hohen Maß an Integration von Ausländern ab der zweiten Generation Rechnung getragen werden, die kaum oder keinerlei Bezug mehr zum Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern haben und für die die Ableistung des Wehrdienstes deshalb eine besondere Härte darstellen würde.

2. Der Zwang, alternativ einen Kurzwehrdienst in der Türkei zu leisten, stößt auch auf Bedenken. Der Kurs besteht laut einer Anfrage der Fraktion Die Linke an die Bundesregierung "vor allem aus ideologischer Beeinflussung im Sinne der türkischen kemalistischen Staatsideologie". Weiter führt der Antrag aus: "Einzelne Kursteilnehmer werden zudem von einem Offizier über ihnen bekannte "feindliche Personen" - beispielsweise türkisch-kurdische Oppositionelle in Deutschland - befragt."

Schlagwörter: Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, türkische Staatsangehörige, Militärdienst, Hinnahme von Mehrstaatigkeit, Zumutbarkeit, Untätigkeitsklage, Ermessen, Freikauf
Normen: VwGO § 75, StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, StAG § 40c, StAG § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Die Klage ist als Untätigkeitsklage zulässig erhoben worden. Die Beklagte hat keine Gründe vorgebracht, die einer (auch ablehnenden) Bescheidung des am 30.09.2009 eingebrachten Einbürgerungsantrages bis zur Klageerhebung am 15.03.2010 entgegen standen (§ 75 VwGO).

Die auch sonst zulässige Klage ist auch begründet. Der Kläger kann seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband - unter Hinnahme seiner türkischen Staatsangehörigkeit - beanspruchen. Die Frage, ob dem Kläger der geltend gemachte Anspruch zukommt, beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.1996 - 1 B 82.95 -, InfAuslR 1996, 399 und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.07.2002 - 13 S 1111/01 -, <Juris>) bzw. der gerichtlichen Entscheidung. Staatsangehörigkeitsrechtlich kommen als Rechtsgrundlage daher die §§ 8 ff. StAG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (2. ZuwGÄG) in Anwendung.

Vorliegend gehen die Beteiligten, wie sie in der mündlichen Verhandlung bekräftigt haben, übereinstimmend davon aus, dass der Kläger mit Ausnahme von Abs. 1 Nr. 4 sämtliche Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt. Entgegen der Auffassung dee Beklagten steht dem Einbürgerungsanspruch auch § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StAG nicht entgegen.

Gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 StAG wird von der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StAG abgesehen, wenn der Ausländer seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen Bedingungen aufgeben kann. Das ist anzunehmen, wenn der ausländische Staat die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit aus Gründen versagt hat, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, oder von unzumutbaren Bedingungen abhängig macht oder über den vollständigen und formgerechten Entlassungsantrag nicht in angemessener Zeit entschieden hat (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StAG).

Nach der vor dem 18.08.2007 geltenden Fassung des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StAG konnte darüber hinaus von dieser Voraussetzung im Ermessenswege abgesehen werden, wenn der ausländische Staat die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit von der Leistung des Wehrdienstes abhängig macht und der Ausländer den überwiegenden Teil seiner Schulausbildung in deutschen Schulen erhalten hat und im Inland in deutsche Lebensverhältnisse und in das wehrpflichtige Alter hineingewachsen ist (§ 12 Abs. 3 StAG 2004).

Der Kläger erfüllt unstreitig die Voraussetzungen nach § 12 Abs. 3 StAG 2004. Davon, dass die Türkei die Entlassung aus der dortigen Staatsangehörigkeit von der Ableistung des Wehrdienstes abhängig macht oder aber von der Ableistung eines Kurzwehrdienstes und der Bezahlung einer hohen Rückkaufgebühr, geht auch die Beklagte aus. Wie in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht, kann es auch nicht darauf ankommen, ob der Kläger von den ückstellungsmöglichkeiten vor Vollendung des 38. Lebensjahres Gebrauch gemacht hat (was er jedoch behauptet hat). Denn bis zum diesem Zeitpunkt war ein Einbürgerungsverfahren nicht anhängig und er hätte somit die Voraussetzungen für die Entlassung aus der Wehrpflicht als Einbürgerungsbewerber nicht erfüllt. Weiter stehen die besonderen Integrationsvoraussetzungen nicht in Frage, nachdem der Kläger in Deutschland geboren wurde, aufgewachsen ist, hier einen qualifizierenden Schul- und Berufsabschluss erlangt hat und inzwischen weit über 40 Jahre alt ist.

Daher hält es das Gericht für geboten, im vorliegenden Fall von der Voraussetzung nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StAG abzusehen. Die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit ist von Bedingungen abhängig, deren Erfüllung dem Kläger unzumutbar sind (§ 12 Abs. 1 S. 1 StAG).

Zwar ist, wie bereits ausgeführt, auf den Kläger das StAG in der seit 2007 gültigen Fassung anzuwenden, eine Teilnahme an der Günstigkeitsklausel nach § 40c StAG ist im Hinblick auf die dort enthaltene Stichtagsregelung vorliegend ausgeschlossen. Außerdem wurde die Regelung in § 12 Abs. 3 StAG 2004 im Rahmen der Novellierung im Jahr 2007 gestrichen. Das bedeutet aber nicht, worauf das Gericht mit Verfügung vom 08.06.2010 hingewiesen hat, dass dieser Regelung keine Bedeutung mehr zukommt. Für die Streichung war nach der amtlichen Begründung (vgl. BT-DrS 16/5065 S. 229) maßgeblich, dass die Regelung in der Praxis zu Anwendungsproblemen geführt habe, da die Voraussetzungen zu restriktiv gewesen seien. Weiter heißt es in der amtlichen Begründung: "Die Verweigerung der Entlassung wegen unzumutbarer Bedingung kann auch unter die Ausnahmeregelung nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 subsumiert werden. Das heißt, Fälle, die bisher von der jetzt gestrichenen Regelung erfasst wurden, fallen alle auch unter die Ausnahmeregelung nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 3."

Dies hat zur Folge, dass aus der früheren Ermessensermächtigung in § 12 Abs. 3 StAG 2004 nunmehr ein Ausnahmegrund im Sinne von § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StAG 2007 geworden ist, die Rechtsposition des Einbürgerungsbewerbers sich insoweit durch die Novellierung also verbessert hat (vgl. dazu Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Anm. 22 zu § 12 StAG). Die gegen diese Rechtsauffassung gerichteten Bedenken des Innenministeriums Baden-Württemberg (vgl. Blatt 68 der Behördenakten), die die Beklagte sich zu eigen gemacht hat, sind schwer verständlich und überzeugen nicht. Wenn dort ausgeführt wird, es habe "ersichtlich" nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen, die Tatbestandsvoraussetzungen des alten Abs. 3 zum Ausnahmegrund zu machen, so steht dies in direktem Widerspruch zur soeben zitierten amtlichen Begründung. Da es bei der Frage der (Un-)Zumutbarkeit um die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs geht, bedeuten die Ausführungen der Gesetzbegründung nichts anderes, als die Zuordnung der in § 12 Abs. 3 StAG 2004 geregelten Fallgruppe unter den Begriff der Unzumutbarkeit nach § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 2. Alt. StAG 2007. Das ist nach Auffassung des Gerichts völlig gerechtfertigt. Es bedarf keiner weiteren Ausführung, dass damit dem hohen Maß an Integration von Ausländern ab der zweiten Generation Rechnung getragen werden soll, die kaum oder keinerlei Bezug mehr zum Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern haben und für die die Ableistung des Wehrdienstes deshalb eine besondere Härte darstellen müsste.

Diese Auslegung wird im Übrigen auch durch die geltende Erlasslage gestützt. Nach Ziff. 12.1.2.3.2.2 der (insoweit normeninterpretierenden) Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörigkeitsgesetz in der aktuellen Fassung (- VAH BMI 2009 - Stand: 17. April 2009; insoweit inhaltsgleich mit den VAH-StAG Baden-Württemberg Stand: 05.06.2009) liegt eine unzumutbare Bedingung im Sinne von § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 2. Fallgruppe, dann vor, wenn der Herkunftsstaat die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit von der Leistung des Wehrdienstes abhängig macht, wenn der Einbürgerungsbewerber über 40 Jahre alt ist und seit mehr als 15 Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Herkunftsstaat hat, davon mindestens zehn Jahre im Inland, und er weitere, in der Verwaltungsvorschrift näher dargelegte, Voraussetzungen erfüllt. Anders als die VAH-StAG Baden-Württemberg 2009 sehen die VAH-Bund 2009 jedoch weiterhin noch die folgende Regelung vor:

"Im Rahmen der Zumutbarkeit ist auch an dieser Stelle zu prüfen, ob die Leistung ausländischen Wehrdienstes für im Inland aufgewachsene Einbürgerungsbewerber zumutbar ist (der frühere § 12 Abs. 3 ist durch das Richtlinienumsetzungsgesetz entfallen). In Anlehnung an die Nummer 3.3.1.2 der Vorläufigen Anwendungshinweise vom 22. Dezember 2004 zu § 5 Abs. 2 Nr. 3 der Aufenthaltsverordnung ist die Erfüllung der Wehrpflicht im Herkunftsstaat für Einbürgerungsbewerber zusätzlich unzumutbar, die bereits in der zweiten und weiteren Generationen in Deutschland leben. Auch ein Freikauf ist dieser Personengruppe generell nicht mehr zuzumuten."

Die in Bezug genommene Nummer 3.3.1.2 der Vorläufigen Anwendungshinweise vom 22. Dezember 2004 zu § 5 Abs. 2 Nr. 3 der Aufenthaltsverordnung hat folgenden Inhalt:

"Eine Unzumutbarkeit der Erfüllung der Wehrpflicht im Heimatstaat aus zwingenden Gründen (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV) liegt regelmäßig vor bei Ausländern der zweiten Generation, die vor Abschluss eines Einbürgerungsverfahrens stehen, bei Ausländern, die mit Deutschen verheiratet sind, wenn aus der Ehe ein Kind hervorgegangen ist oder wenn ein Kind eines Ehegatten im gemeinsamen Haushalt lebt und in diesen Fällen die eheliche Lebensgemeinschaft fortbesteht, bei Ausländern, die mit Deutschen in ehelicher Lebensgemeinschaft leben, wenn sie über 35 Jahre alt sind und sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben, sowie bei Ausländern, die mit ihrem minderjährigen deutschen Kind zusammenleben und zur Ausübung der Personensorge berechtigt sind."

Der Kläger erfüllt ersichtlich erst recht diese Voraussetzungen, insbesondere ist er im Inland aufgewachsen, gehört zur zweiten Generation in Deutschland und er steht, nachdem er sämtliche sonstigen Voraussetzungen für eine Anspruchseinbürgerung erfüllt, auch vor dem Abschluss eines Einbürgerungsverfahrens. Er lebt auch mit seinen minderjährigen deutschen Töchtern zusammen. Damit ist ihm auch der von der Beklagten so nachhaltig angesonnene Freikauf nicht mehr zuzumuten.

Wie die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten und der Fraktion Die Linke im Bundestag vom 06.07.2009 (vgl. BT-DrS 16/13749) deutlich macht, hält die Bundesregierung an dieser Auslegung des Zumutbarkeitsbegriffes in § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 2. Alt. StAG 2007 fest.

Damit wird nicht, wie das Innenministerium Baden-Württemberg befürchtet, die Hinnahme der Mehrstaatigkeit von Türken der Regelfall, die ihren Wehrdienst nicht abgeleistet und das 38. Lebensjahr vollendet haben, vielmehr wird die Mehrstaatigkeit wegen nicht abgeleisteten Wehrdienstes hingenommen, weil der Ausländer über die Staatsangehörigkeit nur noch formale Bezüge zur Türkei hat, tatsächlich aber schon fast ein Deutscher ist.

Der Umstand, dass das Innenministerium Baden-Württemberg sich dieser Auslegung des Zumutbarkeitsbegriffes nicht anzuschließen vermochte, ist für das Gericht unbeachtlich. Es handelt sich um eine normeninterpretierende Verwaltungsvorschrift, die das Gericht nicht bindet. Die Auslegung der Gesetze ist letztlich den Verwaltungsgerichten anvertraut.

Damit kommt es auf die weiteren, zum Teil im Verfahren aufgeworfenen Fragen nicht mehr an. Das betrifft zum einen die Frage, ob der Kläger eine Gewissensentscheidung getroffen hat, aufgrund welcher er keinen Kriegs- oder Waffendienst leisten muss und ob seine Gewissensentscheidung auch den sog. Kurzwehrdienst umfasst, nachdem die Türkei keinen Ersatzdienst anbietet.

Es besteht weiter kein Anlass, der vom Regierungspräsidium Stuttgart in einem (in den Behördenakten enthaltenen) Bericht vom 16.12.2009 an das Innenministerium Baden-Württemberg zu Recht aufgeworfenen Frage nachzugehen, ob die Verweisung eines türkischen Einbürgerungsbewerbers auf die Absolvierung des mehrwöchigen Kurzwehrdienstes noch "sinnvoll" ist. Die Verhältnismäßigkeit dieser Verweisung könnte schon deshalb zweifelhaft sein, weil dieser Kurs neben der Leistung der vergleichsweise hohen Ablösesumme zu absolvieren ist und weil er offenbar im Gegensatz zum eigentlichen Ziel steht, die türkische Staatsangehörigkeit aufzugeben und deutscher Staatsangehöriger zu werden. Auch inhaltlich könnte der Zwang, den Kurzwehrdienst zu leisten, auf Bedenken stoßen. Was tatsächlich Inhalt des Kurses ist, hat die Beklagte bzw. das Land Baden-Württemberg offenbar bisher nicht wirklich aufgeklärt. Anhaltspunkte ergeben sich allerdings aus der schon zitierten Anfrage der Fraktion Die Linke an die Bundesregierung (aaO.). Danach besteht der Kurs "vor allem aus ideologischer Beeinflussung im Sinne der türkischen kemalistischen Staatsideologie. Die Schulungen haben Titel wie "Der Terror" - gemeint ist die kurdische Frage, "Türkisch-armenische Beziehungen" - hier wird der türkische Genozig an den Armeniern während des ersten Weltkrieges geleugnet - oder "Geopolitische Lage der Türkei" - hier geht es um angebliche Pläne des Auslandes zur Aufspaltung der Türkei." Weiter führt der Antrag aus: "Einzelne Kursteilnehmer werden zudem von einem Offizier über ihnen bekannte "feindliche Personen" - beispielsweise türkisch-kurdische Oppositionelle in Deutschland - befragt." [...]