VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 03.09.2010 - 24 K 95.09 V - asyl.net: M17815
https://www.asyl.net/rsdb/M17815
Leitsatz:

Art. 92 ff. des vietnamesischen Familiengesetzbuches lassen eine Vereinbarung über ein alleiniges Sorgerecht im Sinne des hier maßgeblichen Gemeinschaftsrechts zu.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Visum, Visumsverfahren, Familienzusammenführung, Kindernachzug, Vietnam, Kindeswohl, Sorgerecht, alleiniges Sorgerecht, Familienzusammenführungsrichtlinie, elterliche Verantwortung, Umgangsrecht
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 6 Abs. 4, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 Bst. c, VO 2201/2003 Art. 2, VO 2201/2003 Art. 2 Nr. 7, VO 2201/2003 Art. 11, EGBGB Art. 21, VO 2201/2003 Art. 2 Nr. 10
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung des begehrten Visums ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf ein Visum zur Familienzusammenführung zu ihrer Mutter.

Anspruchsgrundlage für das begehrte Visum ist § 32 Abs. 3 i.V.m. § 6 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. S. 1970 ff.) - AufenthG -. Danach ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis - hier zunächst ein Visum - zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen. Die 15-jährige Klägerin hat hiernach einen Anspruch auf das begehrte Visum. Ihre Mutter ist im Sinne dieser Regelung allein personensorgeberechtigt.

Bei der Prüfung, ob ein Elternteil allein personensorgeberechtigt ist, kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der hier gefolgt wird, nicht auf das deutsche Familienrecht zurückgegriffen werden. Der Begriff ist vielmehr mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober 2003) - sog. Familienzusammenführungsrichtlinie - gemeinschaftsrechtlich auszulegen. Diese Richtlinie regelt den Familiennachzug zu sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen. Sie ist am 3. Oktober 2003 in Kraft getreten (vgl. Art. 21 der RL) und war von den Mitgliedstaaten bis 3. Oktober 2005 umzusetzen (vgl. Art. 20 der RL). Dem ist der deutsche Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz und mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz nachgekommen. Da die Klägerin ihren Visumsantrag nach Ablauf der Umsetzungsfrist gestellt hat, ist die Richtlinie zwingend zu beachten. Entscheidendes Anliegen der Kindernachzugsregelung in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG ist das Kindeswohl. Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie gestatten die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 genannten Bedingungen den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden die Einreise und den Aufenthalt, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt aufkommt. Übernommen wurde in Art. 32 Abs. 3 AufenthG die Voraussetzung, dass ein Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem in Deutschland lebenden Elternteil besteht, wenn er "allein" sorgeberechtigt ist. Die Richtlinie 2003/86/EG enthält keine Definition des Begriffs "Sorgerecht“. Sie verweist insoweit auch nicht auf die Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates. Der Begriff ist daher einheitlich auszulegen. Ein Anhaltspunkt, wie der Begriff auf Gemeinschaftsebene zu verstehen ist, findet sich in Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ABl. L 338, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 (ABl. L 367, S. 1) geänderten Fassung - im Folgenden: VO 2201/2003 - (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – BVerwG 1 C 17.08, juris).

Nach Art. 2 Nr. 9 VO 2201/2003 bezeichnet der Ausdruck "Sorgerecht" die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes, während der Ausdruck "elterliche Verantwortung" nach Art. 2 Nr. 7 der VO 2201/2003 die gesamten Rechte und Pflichten bezeichnet, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden, und außer dem Sorgerecht insbesondere auch das Umgangsrecht umfasst. Nach Art. 11 b der VO 2201/2003 ist von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann. Auch dies zeigt, dass es für die Feststellung des alleinigen Sorgerechts des Elternteils, zu dem das Kind nachziehen möchte, gemeinschaftsrechtlich vor allem darauf ankommt, ob dem nicht im Bundesgebiet aufhältlichen Elternteil ein auf den Aufenthaltsort des Kindes bezogenes Entscheidungsrecht zukommt, welches durch das Verbringen des Kindes nach Deutschland beeinträchtigt werden könnte. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es zusätzlich darauf an, ob dem anderen Elternteil sonstige substantiellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. Nur wenn dies nicht der Fall sei, gehe der Richtliniengeber davon aus, dass der Nachzug typischerweise dem Kindeswohl entspreche (BVerwG, a.a.O.). In jedem Fall reicht die bloße Zustimmung des anderen Elternteils zum Zuzug nach Deutschland weder nach dem Aufenthaltsgesetz aus noch begründet sie nach der Richtlinie 2003/86/EG einen zwingend zu beachtenden Nachzugsanspruch.

Wem das Sorgerecht zusteht, beurteilt sich gemäß Art. 21 EGBGB nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Klägerin hat diesbezüglich das Urteil des Volksgerichts des Distrikts 4 der Ho-Chi-Minh-Stadt vom 26. Dezember 2008 vorgelegt. Darin werden unter anderem die §§ 92 ff. des vietnamesischen Familiengesetzes vom 1. Januar 2001 - im Folgenden: FamG SRV - zitiert. Diese Regelungen über Scheidungsfolgen wurden hier offenbar analog angewendet, weil der Lebensgemeinschaft der Eltern in dieser Entscheidung zugleich die Anerkennung als Ehe abgesprochen worden ist. Gemäß § 92 Abs. 2 FamG SRV obliegt es vorrangig den Eltern, sich darüber abzustimmen, wer das Kind "direkt erzieht" und welche Rechte und Pflichten jedem Elternteil in Bezug auf das Kind zukommen sollen. Nur wenn ihnen eine solche Vereinbarung nicht gelingt, soll das Gericht in einer Entscheidung, die in jeder Hinsicht den Interessen des Kindes entspricht, einem Elternteil das direkte Erziehungsrecht zusprechen. Gemäß Art. 94 Abs. 1 FamG SRV hat die Person, die das Kind nicht direkt erzieht, das Recht es zu besuchen, welches von niemandem beeinträchtigt werden darf. Nach diesen Regelungen ist es den Eltern ersichtlich nicht verwehrt, Sorgerechte und -pflichten auf einen Elternteil allein zu übertragen. Die Möglichkeit einer einvernehmlichen Regelung wird auch in dem von der Beklagten vorgelegten Gutachten der Vertrauensanwälte vom 22. April 2009 erwähnt, ohne hier Grenzen der Disposition aufzuzeigen.

Dem steht auch die Regelung des Art. 94 FamG SRV ersichtlich nicht entgegen. Hiernach muss das Recht zum Besuch des Kindes demjenigen Elternteil erhalten bleiben, der das Kind nicht "direkt erzieht". Diese Regelung gilt nach ihrem Wortlaut und ihrer Stellung im Gesetz sowohl für die Fälle, in denen das Erziehungsrecht auf Vereinbarung beruht, als auch in den gerichtlich entschiedenen Sorgerechtsfällen. Das darin genannte Besuchsrecht ist Teil des Umgangsrechts, das in Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2201/2003 gesondert definiert wird und in Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a sowie in Art. 2 Nr. 7, 9 und 10 der Verordnung ausdrücklich neben das Sorgerecht gestellt wird. Nach alledem lässt sich ein - aufgrund Vereinbarung oder Gerichtsentscheidung - bestehendes bloßes Besuchsrecht eines Elternteils ohne Weiteres mit einem alleinigen Personensorgerecht des anderen Elternteils im Sinne des Gemeinschaftsrechts und des § 32 Abs. 3 AufenthG vereinbaren.

Das Urteil des Volksgerichts weist in der Sachverhaltsdarstellung darauf hin, dass beide Elternteile sich einig seien, dass der Mutter der Klägerin das direkte Sorgerecht übertragen worden sei und diese auf Unterhaltspflichten des Kindesvaters, wie sie in diesem Falle nach Art. 92 Abs. 1 Satz 2 FamG SRV vorgesehen sind, verzichtet. Dem entsprechend ist dem Regelungsteil des Urteils keine streitige Entscheidung über das Sorgerecht zu entnehmen. Vielmehr trägt der diesbezügliche Abschnitt die Überschrift "Folgende Vereinbarungen" und gibt lediglich den Inhalt der bereits im Sachbericht beschriebenen Einigung wieder. Zwar heißt es im Regelungsteil weiter, das Recht auf Kindsbesuch und -"erziehung" bleibe Herrn V... unberührt. Hierzu hat der die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung begleitende beeidigte Dolmetscher nachvollziehbar ausgeführt, dass der in der Entscheidung für den Kindesvater verwendete Begriff "cham soc" mehr im Sinne des Pflegens, nicht aber im Sinne des Erziehens zu übersetzen sei, letzteres werde in Bezug auf die Kindesmutter durch "nuoi" ausgedrückt.

Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dem eingeräumten Recht zur "Erziehung" bzw. eher "Pflege" des Kindes wesentliche Mitwirkungsrechte begründet werden, die außerhalb von Besuchen ein alleiniges Sorgerecht der Kindesmutter beschneiden. Denn im Urteil ausdrücklich noch hinzugefügt worden, Herr V... könne das Sorgerecht von Frau N... mit der Ausübung seines Rechts auf Kindbesuch und -"erziehung" bzw. -"pflege" nicht beeinträchtigen oder beschränken. Diese Regelung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Urteil mit der zugrundeliegenden Vereinbarung der Eltern im Dezember 2008 allein zu dem Zweck abgefasst worden ist, der Kindesmutter die Übersiedlung nach Deutschland zu ermöglichen. Insoweit ist ausdrücklich auf das Kindeswohl Rücksicht genommen worden, indem das Gericht durch eine Befragung am 16. Dezember 2008 den Wunsch der Klägerin festgestellt hat, "mit Frau N... zu leben". Zu dieser Zeit war bereits das Visum beantragt und der jetzige Ehemann der Kindesmutter war durch Schreiben der Beigeladenen vom 10. November 2008 ausdrücklich aufgefordert worden, einen Sorgerechtsbeschluss beizubringen (Bl. 5 der Ausländerakte), nachdem nachgewiesen war, dass die Kindesmutter zu keiner Zeit wirksam verheiratet war. Nach alledem ist nicht ersichtlich, dass dem Kindesvater außer dem Recht, die Klägerin zu besuchen und bei dieser Gelegenheit in Obhut zu nehmen, wesentliche Mitentscheidungsrechte verblieben sind, die das alleinige Sorgerecht der Mutter und insbesondere ihr Aufenthaltsbestimmungsrecht beeinträchtigen. [...]