OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.09.2010 - 11 B 14.10 - asyl.net: M17813
https://www.asyl.net/rsdb/M17813
Leitsatz:

1. Die erteilten Aufenthaltserlaubnisse sind erloschen, weil die Klägerin sich von September 2005 bis September 2008 im Wesentlichen in der Türkei aufhielt, um dort die Schule zu besuchen. Der Lauf der Sechsmonatsfrist eines Auslandsaufenthalts, nach welcher ein Aufenthaltstitel erlischt (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG), wurde auch nicht dadurch unterbrochen, dass die Klägerin jeweils vor Ablauf der Frist nach Deutschland zurückkehrte, um die Schulferien bei ihren Eltern zu verbringen.

2. Offen bleibt in diesem Verfahren, ob die Klägerin ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 hat oder ob dieses ebenfalls durch den mehrjährigen Schulbesuch erloschen ist, da es unter dem Gesichtspunkt der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht auf den Fortbestand eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ankommt.

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Beurteilungszeitpunkt, Erlöschen, Aufenthaltserlaubnis
Normen: AufenthG § 35 Abs. 1, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7
Auszüge:

[...]

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen; insoweit ist das angefochtene Urteil wirkungslos (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO analog). Im Übrigen ist die Berufung der Klägerin unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil die Klägerin die von ihr begehrte Niederlassungserlaubnis nicht beanspruchen kann und der angefochtene Versagungsbescheid des Beklagten vom 23. März 2007 in der Fassung des Bescheides vom 14. Juni 2007 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist einem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach dem sechsten Abschnitt des AufenthG (Familiennachzug) besitzt, abweichend von § 9 Abs. 2 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist. Das gleiche gilt gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, wenn der Ausländer volljährig und seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist (Nr. 1), er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt (Nr. 2) und sein Lebensunterhalt gesichert ist oder er sich in einer Ausbildung befindet, die zu einem anerkannten schulischen oder beruflichen Bildungsabschluss führt (Nr. 3). Da es für den Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ankommt und die Klägerin mittlerweile volljährig ist, beurteilen sich die Anspruchsvoraussetzungen nach § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Zwar erfüllt die Klägerin die zusätzlichen Voraussetzungen nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 AufenthG unstreitig. Sie ist jedoch nicht seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Denn die der Klägerin bis zum 4. März 2006 und am 20. Februar 2006 bis zum 19. Februar 2008 erteilten Aufenthaltserlaubnisse sind erloschen, weil sie sich von September 2005 bis September 2008 im Wesentlichen in der Türkei aufhielt, um dort ihre Schulzeit abzuschließen. Insoweit ergäbe sich aber auch nichts anderes, wenn gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf den Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres der Klägerin abgestellt würde.

Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt ein Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausreist. Dasselbe gilt gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereicht ist. Hier sind beide Erlöschenstatbestände erfüllt.

Ob ein Ausländer i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist ist, beurteilt sich nicht (allein) nach dem inneren Willen des Ausländers und seiner nach der Rückkehr in das Bundesgebiet erklärten Absicht, sondern maßgebend sind vielmehr die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Wesentliche Anhaltspunkte für die Beurteilung, ob der Grund der Ausreise seiner Natur nach vorübergehend ist oder nicht, ist die Dauer des Aufenthalts im Ausland. Je länger der Aufenthalt währt und je deutlicher er über einen bloßen Besuchs-, Geschäfts- oder Erholungsaufenthalt hinausgeht, desto mehr spricht dafür, dass der Auslandsaufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist. Weiterhin kommt es darauf an, ob sich der Auslandsaufenthalt auf einen konkreten Zweck und einen überschaubaren Zeitraum bezieht. Wenn ein Ausländer im Heimatstaat eine Schule besucht, liegt in der Regel eine nicht nur vorübergehende Abwesenheit vom Bundesgebiet vor. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Ende der Ausbildung nicht absehbar ist. Etwas anderes kann dann gelten, wenn nach den Gesamtumständen die Rückkehrabsicht außer Frage steht, die zeitlich begrenzte Dauer der Ausbildung von vornherein feststeht und die Ausbildung für einen Aufenthalt im Bundesgebiet von Nutzen ist (vgl. zum Vorstehenden insgesamt GK AufenthG, § 51, Rz. 43-53, jeweils m.w.N.).

Danach ist davon auszugehen, dass die Klägerin das Bundesgebiet bereits im September 2005 nicht nur vorübergehend verlassen hat. Denn der Schulbesuch der Klägerin auf der österreichischen Schule in Istanbul war von vornherein auf den Erwerb der dem Abitur entsprechenden Matura ausgerichtet und damit auf einen ca. dreijährigen Zeitraum angelegt und wurde nur von jeweils kurzfristigen Ferienaufenthalten bei ihren Eltern unterbrochen. Dieser Gesamtzeitraum ist ein wesentliches Indiz für die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Verlassens des Bundesgebiets. Hinzu kommt, dass die Klägerin, seinerzeit noch minderjährig, in der Türkei durch ihre Großmutter familiär betreut worden ist, so dass sie nicht nur in Deutschland, sondern gleichzeitig, und für die Zeit ihres Türkeiaufenthalts vorrangig, auch in der Türkei familiär eingebunden war. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Ausbildung der Klägerin mit der Beendigung der Schulzeit nicht abgeschlossen war. Wo sie ihre Ausbildung fortsetzen würde, war jedenfalls während ihres knapp dreijährigen Türkeiaufenthalts ungewiss und objektiv nicht erkennbar. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die von der Klägerin bzw. seinerzeit ihren Eltern angestrebte international fundierte Ausbildung durchaus auch ein Studium oder eine sonstige Berufsausbildung außerhalb der Bundesrepublik hätten nahe legen können. Dem entspricht es im Übrigen, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erklärt hat, sie wolle in Österreich Psychologie studieren, weil sie dort keinen Zulassungsbeschränkungen unterliege. Gerade der von ihr erworbene österreichische Schulabschluss, mag er auch in Deutschland als Abitur anerkannt werden, legt es nahe, ein Studium in Österreich aufzunehmen.

Darüber hinaus ist auch der Erlöschenstatbestand nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erfüllt. Bei dieser § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG ergänzenden Vorschrift ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass bei einem über sechs Monate hinausgehenden Verbleib im Ausland die Ausreise grundsätzlich nicht mehr aus einem vorübergehenden Grund erfolgt ist. Vielmehr steht in diesen Fällen regelmäßig unwiderleglich fest, dass ein Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist und deshalb seine Aufenthaltsgenehmigung erloschen ist (so schon zum wortgleichen § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 BT-Drucks. 11/6321, S. 71). Die Fristbestimmung dient der Rechtsklarheit und macht die kraft Gesetzes eintretende Rechtsfolge des Erlöschens des Aufenthaltstitels bei nicht nur vorübergehender Ausreise des Ausländers berechenbar. Entscheidend ist allein, dass der Ausländer nach seiner Ausreise aus dem Bundesgebiet länger als sechs Monate ununterbrochen im Ausland verblieben ist.

Zwar mag die Klägerin, wie sie vorträgt und teilweise durch die Vorlage von Flugtickets belegt hat, während der Zeit ihres Schulbesuchs in Istanbul jeweils vor Ablauf von sechs Monaten in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt sein, um in den Ferien bei ihren Eltern zu leben. Der Lauf der Sechsmonatsfrist wird aber nicht dadurch unterbrochen, dass der Ausländer kurzfristig in das Bundesgebiet zurückkehrt und danach zur Verfolgung desselben Zwecks wie zuvor wieder ausreist (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 24. April 2007 - 18 B 2764/06 -, zu § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990, bei Juris; BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 1988, InfAuslR 1989,114; GK AufenthG, § 51, Rz. 72, m.w.N.). Da die Klägerin immer nur kurzfristig während der Ferien nach Deutschland zurückgekehrt ist, sodann aber wieder in die Türkei gereist ist, um ihren dortigen Schulbesuch fortzusetzen, wird der gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG noch unschädliche Zeitraum eines Auslandsaufenthalts von sechs Monaten bei der anzustellenden Gesamtbetrachtung bei weitem überschritten.

Die aus der strikten gesetzlichen Regelung des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG gegebenenfalls folgenden Härten können durch eine Verlängerung der Wiedereinreisefrist durch die Ausländerbehörde abgemildert werden. Eine solche Verlängerung ist hier zwar beantragt worden, aber nicht erfolgt. Der dahingehende Antrag der Klägerin benannte auch keinen konkreten Zeitraum.

Es mag zwar nicht zu bestreiten sein, dass die Klägerin, wie sie dies insbesondere auch mit der Berufungsbegründung geltend macht, in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland hinreichend integriert ist, so dass nach dem Regelungsgedanken des § 35 AufenthG von einem Integrationsstand ausgegangen werden kann, der dem fünfjährigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis entspricht. Gleichwohl kann auf die Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals nicht verzichtet werden. Der Gesetzgeber hat die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen er von einem hinreichenden Integrationsstand ausgeht, aus Gründen der Rechtssicherheit formalisiert und die Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis sodann als strikten Rechtsanspruch ausgestaltet. Das schließt es aus, eine Niederlassungserlaubnis unter Vernachlässigung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu erteilen.

Ob der Klägerin ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 zusteht oder ob dies aufgrund ihres mehrjährigen Schulaufenthalts in der Türkei ebenfalls erloschen ist (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 30. Juni 2010 - OVG 11 S 28.10 -, m.w.N.), kann dahinstehen. Unter dem Gesichtspunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis kommt es nicht auf den Fortbestand eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts an, weil § 35 AufenthG ausdrücklich eine Aufenthaltserlaubnis nach dem sechsten Abschnitt des AufenthG fordert. Im Übrigen weist der Beklagte zutreffend darauf hin, dass die assoziationsrechtlichen Vorschriften den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, an das assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrecht einen Status zu knüpfen, der eine darüber hinausgehende Aufenthaltsverfestigung gewährt. [...]