VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 05.10.2010 - 29 K 169.09 V - asyl.net: M17810
https://www.asyl.net/rsdb/M17810
Leitsatz:

Verpflichtung zur Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zum Vater. Zu Unrecht meint die Beklagte, die Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts Podujevo (Kosovo) sei unbeachtlich; diese Entscheidung ist im Ergebnis nicht mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar. Insbesondere kein Verstoß gegen das Kindeswohl, denn es ist eine zulässige und durchaus beachtliche Kindeswohlerwägung, dass im Vergleich zum Kosovo für einen 16-Jährigen in Deutschland offensichtlich bessere Ausbildungs- und Berufschancen bestehen (mit Verweis auf VG Berlin, Urteil vom 20.7.2010 - VG 29 K 154/10 V - [asyl.net, M17532] zu einem türkischen Jugendlichen)

Schlagwörter: Visum, Visumsverfahren, Familiennachzug, Kindernachzug, Kosovo, Sorgerechtsverfahren, Sorgerecht, ordre-public, Elternrecht, Kindeswohl
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, FamFG § 109 Abs. 1 Nr. 4, FGG § 16a Nr. 4, ESÜ Art. 10 Abs. 1 Bst. a
Auszüge:

[...]

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet, da der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Er hat einen Anspruch auf Familiennachzug (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO) nach § 32 Abs. 3 AufenthG, da er das 16. Lebensjahr im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht vollendet hatte, sein Vater über eine Niederlassungserlaubnis verfügt und Inhaber des alleinigen Personensorgerechts ist. Zu Unrecht meint die Beklagte, die Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts Podujevo vom 12. März 2009 sei unbeachtlich.

Zutreffend geht die Beklagte allerdings davon aus, dass die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung gem. § 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG, § 16a Nr. 4 FGG ausgeschlossen ist, wenn dies zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere wenn die Anerkennung mit den Grundrechten unvereinbar ist (vgl. Auch Artikel 10 Abs. 1 lit. a des Europäisches Sorgerechtsübereinkommen/ ESÜ, das vom Kosovo noch nicht unterzeichnet ist), wobei der ordre-public-Vorbehalt jedoch hohe Anforderungen stellt. Unerheblich ist, ob die fragliche Entscheidung mit dem jeweiligen ausländischen Recht in Einklang steht, denn maßgeblich ist allein das an deutschem Recht zu messende Ergebnis. Daher kommt es hier nicht darauf an, ob die Mutter tatsächlich ihr Elternrecht missbraucht oder die Ausübung der elterlichen Pflichten grob vernachlässigt hat wie es § 149 Abs. 1 des kosovarischen Familiengesetzes vom 20. Januar 2006 für den Entzug des Sorgerechts fordert, was in dem Urteil vom 12. März 2009 tatsächlich nur pauschal behauptet wird. [...] - Rechte der Mutter können durch das Gerichtsurteil nicht übergangen sein, weil diese mehrfach ausdrücklich der Entscheidung zugestimmt hat. Zwar scheint in der Tat der Kläger selbst in dem Verfahren vor dem kosovarischen Gericht nicht gehört worden zu sein, was gegen Art. 140 Abs. 5 des Familiengesetzes vom 20. Januar 2006 verstößt. Auch dies lässt die Entscheidung aber nicht als im Ergebnis mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar erscheinen, weil der Kläger offensichtlich und erklärtermaßen tatsächlich zu seinem Vater ziehen will. Nach dem dargelegten Maßstab komm es auch nicht darauf an, dass das "Zentrum für Sozialarbeit-Fürsorgeorgan (Jugendamt)" hier sein – zustimmendes - Votum erst nach Erlass des Urteils abgegeben hat.

Insbesondere verstößt die vom kosovarischen Gericht geschaffene Sorgerechtslage nicht gegen das Kindeswohl, jedenfalls nicht in einem dem deutschen ordre public widersprechenden Maß. Richtig ist allerdings, dass es sich dabei um den wesentlichen und daher unverzichtbaren Grundsatz des deutschen Familien-und Kindschaftsrechts handelt. Auch hier kann aber nur solchen Entscheidungen die Anerkennung versagt werden, die zu einem mit dem Kindeswohl schlechthin unvereinbaren Ergebnis führen. Hierzu hat die Kammer mit Urteil des Einzelrichters vom 20. Juli 2010 (VG 29 K 154/10 V zu einem türkischen Jugendlichen; vgl. auch Urteil vom 10. Februar 2005 - VG 31 V 12.04, beide in juris) ausgeführt:

"Dabei kann unterstellt werden, dass die Entscheidung allein oder jedenfalls entscheidend ausländerrechtlich motiviert bzw. von ökonomischen Gesichtspunkten getragen ist, nämlich dem Zweck dient, dem Kläger den Zuzug nach Deutschland zu ermöglichen, weil die Ausbildungssituation und die daran anknüpfenden Berufsaussichten hier besser erscheinen. Ob dies tatsächlich zutrifft und ob der Kläger trotz relativ fortgerückten Alters davon wird profitieren können, ist allein eine Frage der inhaltlichen Richtigkeit der Sorgerechtsentscheidung; eine Fehlgewichtung begründet allein keinen Verstoß gegen den ordre public. Es mag zwar sein, dass aus deutscher Sicht wegen einer mit zunehmendem Alter abnehmenden Integrationsfähigkeit es dem Kindeswohl umso mehr zu entsprechen scheint, das Kind in seiner gewohnten Umgebung zu belassen, je stärker es dort integriert ist. Es ist aber nicht einsehbar, weshalb die genannten ausländerrechtlichen und ökonomischen Belange grundsätzlich mit Kindeswohlbelangen inkongruent sein sollen. Es ist zunächst eine autonome Entscheidung der Eltern, wer die Erziehung des Kindes wo wahrnehmen soll. Eine Sorgerechtsentscheidung, die dem Rechnung trägt, ist zunächst hinzunehmen, solange nicht erkennbar ist, dass das Kind dadurch in eine nicht hinnehmbare Situation gebracht wird. Die in § 20 Abs. 3 AuslG noch vorgesehene Möglichkeit, dem im Wege der Ermessenentscheidung einwanderungspolitische Gesichtspunkte entgegenhalten zu können, hat der Gesetzgeber abgeschafft."

Dem schließt sich der erkennende Einzelrichter an (a.A.: VG Berlin, Urteile vom 1.9.2009 – VG 21 K 126.09 V – und vom 23.9.2009 – VG 9 K 135.09 V – beide in juris). Auch im Vergleich zum Kosovo bestehen für einen Sechszehnjährigen in Deutschland offensichtlich bessere Ausbildungs- und Berufschancen. Hierauf abzustellen ist eine zulässige, durchaus beachtliche Kindeswohlerwägung. Gerade bei einem älteren Jugendlichen treten diese Aspekte gegenüber den Gesichtspunkten der Geborgenheit im mütterlichen Haushalt und dem Verbleiben im gewohnten Umfeld stärker in den Vordergrund. Unerheblich ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich die entsprechenden Hoffnungen der Klägerfamilie verwirklichen lassen. Im Rahmen des ordre public darf nicht die Entscheidung des ausländischen Gerichts nach deutschen Maßstäben überprüft werden, insbesondere darf nicht eine Kindeswohlentscheidung aus rein deutscher Sicht an deren Stelle gesetzt werden. Darauf aber läuft die Argumentation der Beklagten und des Beigeladenen hinaus. Zu der Tatsache, dass die ausländische Entscheidung praktisch nur auf die von der Familie gewünschte Übersiedlung nach Deutschland abzielt und dies mit den besseren finanziellen Verhältnissen des hier lebenden Elternteils, der günstigeren ökonomischen Situation in Deutschland und den sich daraus ergebenden besseren Zukunftschancen des Kindes begründet, müssen daher im Einzelfall besondere Umstände treten, damit ein Verstoß gegen den ordre public festgestellt werden kann. Dies kann etwa gegeben sein, wenn der hier lebende Elternteil ersichtlich zur Betreuung des Kindes nicht geeignet oder nicht in der Lage ist. Derartige Umstände liegen hier jedoch nicht vor. Der Vater ist gesund und geht seit vielen Jahren am selben Arbeitsplatz einer geregelten Tätigkeit nach, ohne dass der Beruf ihn zeitlich derart beanspruchen würde, dass er sich nicht um das Kind kümmern könnte. Nach den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrücken engagiert sich der Vater auch in der Sache, so dass nicht davon auszugehen ist, er wolle die Erziehungsaufgabe gar nicht wahrnehmen. Er hat auch durch regelmäßige Besuche Kontakt zum Kläger gehalten, auch wenn diese nur einmal jährlich stattfanden. Zudem spricht der Vater Deutsch und ist seit vielen Jahren mit einer Deutschen verheiratet. Insoweit ist eine erfolgreiche Integration des Klägers trotz offenkundig schwieriger Ausgangssituation auch nicht ausgeschlossen, wobei es auf diese Prognose nach dem dargelegten Maßstab nicht ankommt. [...]

Die Berufung war nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zuzulassen. Denn die Grundsätze, wann eine ausländische Gerichtsentscheidung in Deutschland die Anerkennung versagt werden kann, sind geklärt. Wann ein Ergebnis vorliegt, dass mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, bleibt gerade im Bereich des hier in Rede stehenden Kindeswohls eine Frage der Einzelfallprüfung. [...]