VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 09.11.2010 - 7 L 4260/10.F.A - asyl.net: M17801
https://www.asyl.net/rsdb/M17801
Leitsatz:

1. Der Ausschluss von Eilrechtsschutz nach § 34a Abs. 2 AsylVfG ist mit der Rechtsschutzgarantie des anzuwendenden Gemeinschaftsrechts (Dublin II-VO) nicht zu vereinbaren.

2. Der Familenbegriff des Art. 2 Bst. i Dublin II-VO umfasst nur die Kernfamilie, weshalb eine Trennung der volljährigen Antragstellerin von ihrem Bruder und dessen Ehefrau zulässig ist. Humanitäre Gründe im Sinne von Art. 15 Dublin II-VO liegen nicht vor. Das Gericht kann nicht annehmen, dass alle afghanischen Frauen in einem kulturellen Zusammenhang leben, der die ständige Aufsicht und Betreuung durch ältere Geschwister oder die Eltern kulturtypisch prägt.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Frankreich, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige, Anfechtungsklage, Rechtsweggarantie, Visum, Humanitäre Klausel, Selbsteintritt, Ermessen, Afghanistan
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 42 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 9 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 8, VO 343/2003 Art. 2 Bst. i, VO 343/2003 Art. 15
Auszüge:

[...]

Dem Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, steht insbesondere nicht die Vorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG entgegen. Danach darf die Abschiebung u.a. in einem Verfahren nach der Dublin II-Verordnung nicht nach § 80 oder 123 VwGO ausgesetzt werden. Allerdings ist dies im vorliegenden Fall mit der Rechtsschutzgarantie des anzuwendenden Gemeinschaftsrechtes nicht zu vereinen. Nach Art. 6 Abs. 2 des EU-Vertrages achtet die Europäische Union die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten. Hierzu gehört das Recht jedermanns, in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört zu werden und eine Entscheidung eines unabhängigen und unparteiischen Gerichtes hierüber zu erhalten. Selbstredend gehört hierzu auch die Gewährleistung eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes, um irreparable Entscheidungen verhindern zu können. Dieser gemeinschaftliche Rechtsgrundsatz hat bei der Anwendung einer gemeinschaftsrechtlichen Verordnung Anwendungsvorrang vor nationalem Recht.

Der Antrag ist jedoch nicht begründet.

Die Rechtmäßigkeit der im Bescheid der Antragsgegnerin vom 21.10.2010 getroffenen Abschiebungsanordnung der Antragstellerin in die Republik Frankreich begegnet keinen ernstlichen Zweifeln, so dass dem öffentlichen Vollzugsinteresse Vorrang vor dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin einzuräumen ist. [...]

Hierbei nimmt das Gericht Bezug auf die zutreffenden Gründe in dem angefochtenen Bescheid, nach dessen Inhalt die Republik Frankreich zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens ist, weil das Visum im Reisepass der Antragstellerin, der auf eine Alias-Identität ausgestellt ist, einen Aufenthaltstitel darstellt und das französische Visum insoweit gemäß Art. 9 Abs. 1 Dublin II-Verordnung die Zuständigkeit bestimmt.

Die Antragsgegnerin hat auch zutreffend darauf abgestellt, dass die Antragstellerin keinen Anspruch geltend machen kann, in das nationale Asylverfahren gemäß Art. 8 Dublin II-Verordnung übernommen zu werden. Es ist zwar zutreffend, dass sich der Bruder der - erwachsenen - Antragstellerin und dessen Ehefrau in der Bundesrepublik aufhalten und nahezu zeitgleich mit der Antragstellerin das Heimatland Afghanistan verlassen haben. Der Bruder der Antragstellerin ist auch in das nationale Asylverfahren übernommen worden, während die Schwägerin der Antragstellerin, die ebenfalls in die Republik Frankreich überstellt werden sollte, mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 09.11.2010 (Az: 7 L 4305/10.F.A(V)) Eilrechtsschutz erhalten hat. Die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 03.11.2010 wurde durch das Gericht angeordnet. Es ist zudem auch glaubhaft gemacht worden, dass sich ein Onkel der Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland - in München - aufhält und zwischenzeitlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat. Gleichwohl führen diese verwandtschaftlichen Beziehungen nicht dazu, dass Art. 8 vorliegend zugunsten der Antragstellerin Anwendung findet. Nach Art. 8 Dublin II-Verordnung obliegt jenem Mitgliedsstaat die Prüfung des Asylantrages eines Drittstaatsangehörigen, wenn über den Asylantrag eines Familienangehörigen, der in diesem Mitgliedsstaat gestellt wurde, noch keine erste Sachentscheidung getroffen wurde, sofern die betroffenen Personen dies wünschen. Vorliegend führt dieses Kriterium jedoch nicht zu einer Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland i.S.d. Art. 3 Abs. 1.Dublin II-Verordnung, da die in Kapitel III aufgestellten Regeln für die Rangfolge der Kriterien auf den Familienbegriff des Art. 2 i Dublin II-Verordnung abstellen. Insoweit ist die volljährige und ledige Antragstellerin nicht Familienangehörige i.S.d. Kapitel III Dublin II-Verordnung im Verhältnis zu ihrem Bruder, für dessen Asylantrag die Bundesrepublik Deutschland zuständig ist.

Die Antragstellerin kann sich auch nicht auf die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 15 Dublin II-Verordnung berufen. Danach kann jeder Mitgliedsstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. Bei der Anwendung dieser humanitären Klausel hat die Antragsgegnerin ihr pflichtgemäßes Ermessen dahin auszuüben, welches sich insbesondere den an Regelbeispielen des Art. 15 Abs. 2 Dublin II-Verordnung orientiert. Diese schränken das Ermessen der Antragsgegnerin bei der Zusammenführung von Familienmitgliedern über den in Art. 2 i Dublin II-Verordnung bestimmten Kreis hinaus in Fällen der Schwangerschaft, bei neugeborenen Kindern, schwerer Krankheit, ernsthafter Behinderung und hohem Alter. Es gibt gute Gründe dafür, diese Regelfälle nicht als abschließend anzunehmen. Sofern diese Regelfälle einer Erweiterung zugänglich sind, ist aber auf jeden Fall zu fordern, dass sie in ähnlicher Weise einem Sachverhalt ähneln, in denen es auf das Aufeinanderangewiesensein von Familienmitgliedern ankommt. Dies hat die Antragstellerin jedoch nicht mit Erfolg geltend machen können. [...] Das Gericht kann auch nicht annehmen, dass alle afghanischen Frauen in einem kulturellen Zusammenhang leben, der die ständige Aufsicht und Betreuung durch ältere Geschwister oder durch die Eltern kulturtypisch prägt. Entsprechende Anknüpfungspunkte sind jedenfalls nicht geltend gemacht worden und auch sonst nicht ersichtlich. Insoweit kann die Antragstellerin sich nicht auf die humanitäre Klausel gemäß Art. 15 Dublin II-Verordnung berufen.

Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin in der Republik Frankreich kein faires und mit dem europäischen Recht in Einklang befindliches Asylverfahren erwartet, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. [...]