OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 01.10.2010 - 3 B 275/10 - asyl.net: M17786
https://www.asyl.net/rsdb/M17786
Leitsatz:

Die aufenthaltsrechtliche Vorwirkung der vorgeburtlichen Vaterschaftsanerkennung führt vorliegend zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis (Art. 6 GG) auch ohne das Vorliegen einer Risikoschwangerschaft oder das Erreichen des Mutterschutzes (Geburtstermin: 1.2.2011).

Schlagwörter: Duldung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Schwangerschaft, deutsches Kind, Vorwirkung, Vaterschaftsanerkennung, Sorgerechtserklärung, Ausweisung, Drogendelikt, Schutz von Ehe und Familie, rechtliche Unmöglichkeit, vorläufiger Rechtsschutz
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 6, AufenthG § 1 Abs. 2 S. 1, VwGO § 123, GG Art. 2 Abs. 2, GG Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller, ein nach erfolglos durchgeführtem Asylverfahren vollziehbar ausreisepflichtiger Algerier, der u.a. wegen eines Betäubungsmitteldelikts zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden und gegen den eine bestandskräftige Ausweisungsverfügung ergangen ist, habe keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Entgegen seinem Vorbringen könne er aus der vorgeburtlichen Vaterschaftsanerkennung und der gemeinsam mit der deutschen Mutter abgegebenen Sorgerechtserklärung für das Kind, dessen Geburt am 1.2.2011 erwartet wird, kein rechtliches Hindernis für seine Abschiebung i.S.v. § 60a Abs. 2 AufenthG herleiten. Den rechtlichen Vorwirkungen eines aus Art. 6 Abs. 1 GG hergeleiteten Duldungsanspruchs stünden die vom Antragsteller begangenen erheblichen Straftaten entgegen. Es sei nicht davon auszugehen, dass ihm bei einer Abschiebung seine Wiedereinreise rechtzeitig zum Geburtstermin nicht möglich sei. Etwaigen Anwesenheitserfordernissen könne durch Betretenserlaubnisse nach § 1 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entsprochen werden.

Der Antragsteller hat zeit der Beschwerde Umstände vorgetragen, aus denen sich ergibt, dass das Verwaltungsgericht den auf Untersagung der Abschiebung gerichteten Rechtsschutzantrag nach § 123 VwGO zu Unrecht abgelehnt hat.

Neben einem Anordnungsgrund, dessen Vorliegen im Hinblick auf die geplante Abschiebung zwischen den Beteiligten unstreitig ist, steht dem Antragsteller zeit überwiegender Wahrscheinlichkeit wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Ob daneben wegen der Passlosigkeit des Antragstellers auch ein rechtliches Abschiebungshindernis besteht, kann daher offen bleiben.

Zum Prüfungsmaßstab in Fällen wie dem vorliegenden hat der Senat bereits ausgeführt (Beschl. v. 2.10.2009, NVwZ-RR 2010, 78):

"Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 25.1.2006, NVwZ 2006, 613) kann die nicht eheliche Vaterschaft eines Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen Staatsangehörigen einen Umstand darstellen, der unter den Gesichtspunkten des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 OG und der Pflicht des Staates, sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG schützend und fördernd vor den nasciturus zu stellen, aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen entfaltet."

"Hinsichtlich des Schutzes der Ehe sind Vorwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG für den Fall des unmnittelbaren Bevorstehens der Eheschließung allgemein anerkannt (vgl. dazu Senatsbeschl. v. 8.2.2005 - 3 BS 426/04 -). Entsprechende Vorwirkungen sind im Falle der bevorstehenden Familiengründung regelmäßig dann anzunehmen, wenn der nicht eheliche Vater durch die vorgeburtliche Anerkennung der Vaterschaft und des gemeinsamen Sorgerechts zu erkennen gegeben hat, dass er die elterliche Verantwortung übernehmen wird und zudem der Entbindungszeitpunkt so nahe bevorsteht, dass bis zur Geburt ein Familiennachzug unter Einhaltung der Einreisevorschriften nach behördlicher Erfahrung oder - in Ermangelung einer solchen - nach dem Ergebnis behördlicher Ermittlung bei der zuständigen Auslandsvertretung und ggf. der zuständigen Ausländerbehörde nicht mehr in Betracht kommt. Dabei knüpft der vorwirkende Schutz durch Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG deshalb an die Geburt als Grenze des für einen geordneten Familiennachzug ausreichenden Zeitraums an, weil der spezifische Betreuungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung durch die Mutter entbehrlich wird, der Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005, FamRZ 2006, 187 u. v. 23.1.2006, NVwZ 2006, 682; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 30.3.2009 - 12 S 28.09 -, zitiert nach juris; OVG Hamburg, Beschl. v. 14.8.2008, NVwZ-RR 2009, 133 m.w.N.)."

"Diese Schutzverpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG können zunächst dann in Betracht kommen, wenn eine Risikoschwangerschaft und der darauf beruhende Bedarf an Unterstützung der Schwangeren glaubhaft gemacht wird (vgl. Beschl. des Senats v. 25.1.2006 a.a.O.). Sie werden aber auch - bei fehlenden Hinweisen auf eine Risikoschwangerschaft - in Betracht kommen, wenn aus anderen Gründen eine besondere Hilfsbedürftigkeit der schwangeren Mutter gegeben ist. Hiervon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn der Ausländer gegenüber den zuständigen Behörden mit Zustimmung der Mutter seine Vaterschaft anerkannt hat und beide bereits in Verhältnissen leben, die die gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes als sicher erwarten lassen. Zudem muss grundsätzlich auch in einer solchen Konstellation die vorübergehende Ausreise des Kindesvaters unzumutbar sein, wovon regelmäßig nur dann ausgegangen werden kann, wenn mit seiner rechtzeitigen Rückkehr zum Geburtstermin nicht gerechnet werden kann (so auch OVG Hamburg, Beschl. v. 14.8.2008 a.a.O.)."

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend - jedenfalls zumindest bis zum angenommenen Zeitpunkt der Geburt am 1.2.2011 - von einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG auf Grund der Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auszugehen. Der Antragsteller hat die erforderliche Vaterschaftsanerkennung mit Zustimmung der Mutter und die Sorgerechtserklärung vor dem Jugendamt der Stadt Leipzig abgegeben. Darüber hinaus haben die Mutter des erwarteten Kindes, deren Mutter sowie eine Bekannte der Mutter des erwarteten Kindes mit dem Senat am 29.9.2010 vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen erklärt, dass der Antragsteller seit Dezember 2009 bei der Mutter des erwarteten Kindes und deren weiteren Kind aus einer früheren Beziehung wohne. Der Antragsteller kümmere sich intensiv und liebevoll um dieses (Klein-)Kind, für das er die Vaterrolle übernommen habe und das ihn mit "Papa" anrede. Zu den bei der Abgabe der Prognose über das zu erwartende Erziehungs- und Betreuungsverhalten zu Grunde zu legenden Umständen ist dieses Verhalten zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen. Der Senat geht deshalb trotz der gegenläufigen öffentlichen Belange, auf die das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die vom Antragsteller begangenen erheblichen Straftaten hingewiesen hat, davon aus, dass die erwartete Geburt des Kindes eine Zäsur in der Lebensführung des Antragstellers darstellen wird, die erwarten lässt, dass er bei legalisiertem Aufenthalt keine Straftaten mehr begehen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2006, NVwZ 2006, 682).

Der Senat nimmt deshalb zu Gunsten des Antragstellers und des nasciturus an, dass ihnen vorgeburtliche Schutzwirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG zur Seite stehen, da sie in Verhältnissen leben, die die Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes hinreichend sicher erwarten lassen. Der Senat stellt angesichts der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Antragstellers zurück, die darauf beruhen, dass der Antragsteller seit seiner Einreise in die Bundesrepublik im Jahr 2004 und noch bis nach der am 5.8.2010 angeordneten Sicherungshaft stets falsche Angaben über seine Identität und sein Alter, teilweise wohl auch über seine Staatsangehörigkeit gemacht und diese erst im Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren geändert hat. Der Senat stellt darüber hinaus auch die Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Antragstellers zurück, die sich daraus ergeben, dass er auch nicht ansatzweise hat plausibel erklären können, weshalb er anlässlich des Sicherungshaftverfahrens offenbar wahrheitswidrige Angaben zu seinem Aufenthaltsort gemacht und seine Beziehung zur Mutter des erwarteten Kindes gänzlich verschwiegen hat.

Vor dem Hintergrund der für den 1.2.2011 errechneten Geburt des Kindes erscheint es dem Senat als angemessen, angesichts der vom Antragsteller abgegebenen Vaterschaftsanerkennungs- und Sorgerechtserklärung bei ihm zumindest für den Zeitraum von vier bis fünf Monaten von dem Vorhandensein des Willens zur Erbringung der erforderlichen Hilfe- und Betreuungsleistungen gegenüber der Kindesmutter auszugehen. Da innerhalb eines solchen kurzen Zeitraums im Fall einer Ausreise des Antragstellers entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht mit seiner rechtzeitigen Rückkehr zur Geburt des Kindes gerechnet werden kann, ist der Beschwerde nach alldem stattzugeben.

Sollte sich die Erwartung, dass sich der Antragsteller bei einem legalisierten Aufenthalt künftig rechtstreu verhält, nicht bestätigen und dieser erneut straffällig werden, stünde es dem Antragsgegner frei, in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 7 VwGO eine Änderung der vorliegenden Entscheidung zu erwirken (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 123 Rn. 35). [...]