VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - asyl.net: M17780
https://www.asyl.net/rsdb/M17780
Leitsatz:

1. Ein atypischer Ausnahmefall nach § 54 Abs. 5 AufenthG liegt vor, wenn der Ausländer oder die Ausländerin wegen des Bestehens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG nicht abgeschoben werden kann und sich auch die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung in einen aufnahmebereiten Drittstaat oder eine freiwillige Ausreise dorthin nicht aufdrängt.

2. Aus dem Aufenthaltsgesetz dürfte sich keine Rechtsgrundlage dafür ergeben, nach der ein Ausländer oder eine Ausländerin verpflichtet ist, bei einem sog. Sicherheitsgespräch Angaben zur Sache zu machen.

3. Es bleibt für den Fall der Unzulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung offen, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisungsverfügung nach § 54 Abs. 5 AufenthG allein deshalb erfolgen kann, um die Vollziehbarkeit der Meldepflicht sowie der räumlichen Beschränkung nach § 54a Abs. 1 und 2 AufenthG herbeizuführen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, vorläufiger Rechtsschutz, Sofortvollzug, PKK, terroristische Vereinigung, Unterstützung, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Ermessen, Ermessensausweisung, Abschiebungsverbot, Regelausweisung, atypischer Ausnahmefall, Sicherheitsgespräch, Mitwirkungspflicht
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 54 Nr. 5, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1b, AufenthG § 54 Nr. 6, AufenthG § 82, AufenthG § 82 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 54a
Auszüge:

[...]

1.) Die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers gegen die auf § 54 Nr. 5 AufenthG gestützte Ausweisung können im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über die Beschwerde nicht mehr hinreichend zuverlässig als negativ beurteilt werden. [...]

Allerdings erscheint es offen, ob die Betätigungen, die der Antragsgegner dem Antragsteller aktuell noch entgegenhält, von einer Qualität sind, dass sie für sich betrachtet oder jedenfalls im Wege einer Gesamtschau eine Ausweisung auf der Grundlage des § 54 Nr. 5 AufenthG zu tragen vermögen. [...] Ob die dem Antragsteller entgegengehaltenen Verhaltensweisen zutreffen, bedarf der Prüfung in einem Hauptsacheverfahren, namentlich wird die bislang fehlende Konkretisierung und Substantiierung der Vorwürfe nachzuholen sein. Da diese Anknüpfungstatsachen für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung wohl alle in der Vergangenheit liegen - die dem Antragsteller zuletzt vorgehaltene Aktivität stammt vom 29.11.2008 - und selbst ein - unterstellter - tatsächlicher Unterstützungsbeitrag nicht mehr fortwirken dürfte, muss es auch der Klärung im Klageverfahren überlassen bleiben, ob im Zeitpunkt der Entscheidung in der Hauptsache (zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage in Ausweisungsverfahren (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - InfAuslR 2008, 156) noch eine gegenwärtige Gefährlichkeit im Sinne des § 54 Nr. 5 Hs. 2 AufenthG vorliegt (vgl. zu den Anforderungen GK-AufenthG, § 54 Rn. 517 ff.). [...]

Abgesehen davon, dass der Antragsteller substantiiert geltend macht, weder diesen Veranstaltungen noch seinen konkreten Tätigkeiten könne eine den Terrorismus unterstützende Bedeutung beigelegt werden, liegen diese jedenfalls schon länger zurück. [...]

Darüber hinaus stellt sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens auch deshalb als offen dar, weil über eine Ausweisung des Antragstellers wohl nur nach Ermessen entschieden werden kann und die in der angefochtenen Verfügung zu § 54 Nr. 5 AufenthG insoweit hilfsweise angestellten Ermessenserwägungen schon deshalb rechtlichen Bedenken unterliegen, weil diese in tatsächlicher Hinsicht die Entscheidung maßgeblich tragend auch auf den vom Landesamt für Verfassungsschutz mittlerweile zurückgezogenen Erkenntnissen beruhen. Für den Antragsteller sind infolge des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 02.01.2003 - A 1 K 10573/01 - durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit bindender Wirkung für das ausländerrechtliche Verfahren (vgl. § 42 AsylVfG) Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und 4 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG) festgestellt worden, weil ihm aufgrund seiner Einbindung in die YDK auf Funktionärsebene im Fall einer Rückkehr in die Türkei von Seiten des Staates die konkrete Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinn des Art. 3 EMRK droht. Das für einen unüberschaubaren Zeitraum bestehende Abschiebungsverbot begründet atypische Umstände in Bezug auf den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG (Senatsurteil vom 21.07.2010 - 11 S 541/10 - juris Rn. 40; GK-AufenthG, § 54 Rn. 415 i.V.m. Rn. 126 ff.). Auch bei dem Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG wird die Regelvermutung im Hinblick auf das spezial- und generalpräventive Ausweisungsinteresse grundsätzlich von der Aufenthaltsbeendigung nach der Ausweisung getragen. Kann diese nicht vollzogen werden, weil der Ausländer wegen des Bestehens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG nicht abgeschoben werden kann und drängt sich auch die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung in einen aufnahmebereiten Drittstaat oder eine freiwillige Ausreise dorthin nicht auf, fehlt es an der durch das Gesetz vertypten Konstellation. Selbst wenn - nach der weiteren Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes - vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG auszugehen ist, bedarf es im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung einer umfassenden Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte, bei der die Qualität der Unterstützungshandlung und die Gefährdungslage mit dem jeweils gebotenen Gewicht einzustellen sind (vgl. hierzu auch Senatsbeschluss vom 16.11.2007 - 11 S 695/07 - InfAuslR 2008, 159). Insoweit obliegt es der Ausländerbehörde ihre Ermessenserwägungen verfahrensbegleitend zu überprüfen und einer neuen Sachlage anzupassen (BVerwG, Urteile vom 13.04.2010 - 1 C 10.09 - juris Rn. 24 und vom 07.04.2009 - 1 C 17.08 - juris Rn. 37 ff.).

Auch soweit der Antragsgegner die Ausweisung auf § 55 Abs. 2 Nr. 1 b AufenthG stützt, weil der Antragsteller sich weigerte, Fragen in der Sicherheitsbefragung zu beantworten, sind die Erfolgsaussichten zumindest offen.

Es ist schon zweifelhaft, ob es eine gesetzlich angeordnete Rechtspflicht gibt, an einer Sicherheitsbefragung aktiv teilzunehmen. Aus der vom Antragsgegner genannten Bestimmung des § 54 Nr. 6 i.V.m. § 82 AufenthG lässt sich diese wohl nicht herleiten. Als materielle Ausweisungsnorm begründet § 54 Nr. 6 AufenthG keine selbstständige Pflicht. § 82 Abs. 1 AufenthG ist als Mitwirkungsobliegenheit ausgestaltet und nicht als Mitwirkungspflicht und bezieht sich auch nur auf für den Ausländer günstige Umstände (vgl. auch GK-AufenthG, § 55 Rn. 406 ff. insb. 419). § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ermöglicht zwar die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Ausländers, eine Pflicht zur Aussage oder an einer Gesprächsteilnahme umfasst dies jedoch nicht (GK-AufenthG, § 82 Rn. 66).

Der Senat misst bei der - aufgrund der Ergebnisoffenheit des Hauptsacheverfahrens gebotenen - Interessenabwägung dem privaten Interesse des Antragstellers, vorläufig vom Vollzug der angefochtenen Ausweisungsentscheidung verschont zu bleiben, größere Bedeutung zu als dem öffentlichen Interesse an einem Sofortvollzug. Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der Ausweisung in erster Linie damit begründet, dass die durch die Unterstützung des internationalen Terrorismus gefährdeten Rechtsgüter so überragend seien, dass ein zwingendes öffentliches Interesse hieran bestehe. Für diese Einschätzung besteht jedoch derzeit keine Grundlage. Die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung des Antragstellers bleibt vor allem deshalb offen, weil eine von ihm aktuell ausgehende konkrete Gefahrenlage im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht hinreichend sicher festgestellt werden kann; schon aus diesem Grund kann dann regelmäßig kein besonderes öffentliches Interesse daran begründet sein, die Vollziehbarkeit einer Ausweisung schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens anzuordnen. Insbesondere gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller noch vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens Unterstützungshandlungen zugunsten einer terroristischen Vereinigung vornehmen könnte (vgl. hierzu auch Senatsbeschluss vom 16.11.2007, a.a.O.; OVG NRW, Beschluss vom 15.05.2007 - 18 B 2067/06 - juris Rn. 7 ff.), wobei noch hinzukommt, dass eine wirksame Bekämpfung solcher Gefahren durch eine konsequente Aufenthaltsbeendigung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens hier wegen des bestehenden Abschiebungsverbots gar nicht möglich wäre. Inkriminierende Aktivitäten nach November 2008 sind dem Antragsteller von dem Antragsgegner nicht mehr vorgehalten worden. Insoweit besteht auch kein Anlass, die Richtigkeit des Vortrags des Antragstellers, er habe seit Anfang 2009 auch die Teilnahme an exilkurdischen Veranstaltungen eingestellt, in Zweifel zu ziehen. Anhaltspunkte dafür, dass die Unauffälligkeit des Antragstellers lediglich auf einem verfahrensangepassten Wohlverhalten beruht, das jederzeit umschlagen könnte, sind nicht ersichtlich. Auch soweit der Antragsgegner mit der Anordnung des Sofortvollzugs den Zweck verfolgt, die Folgen des § 54a Abs. 1 und 2 AufenthG auszulösen, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisung auch dann zulässig ist, wenn ihr alleiniger Zweck darin besteht, die gesetzlichen Folgen des § 54a AufenthG auszulösen - etwa weil der Ausländer wegen eines Abschiebungsverbots nicht abgeschoben werden kann (in diesem Sinne BayVGH, Beschluss vom 24.10.2008 - 10 CS 08.2339 - juris Rn. 22 f.; VG München, Beschluss vom 20.04.2009 - M 24 S 09.29 - juris Rn. 35 f., GK-AufenthG, § 54a Rn. 11). Denn dies setzt jedenfalls voraus, dass dringende Sicherheitsgründe eine sofortige Überwachung des Ausländers gebieten. Hieran fehlt es jedoch. Es ist bislang nicht hinreichend geklärt, ob überhaupt noch eine gegenwärtige Gefährlichkeit des Antragstellers vorliegt.

Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisung umfasst auch die im Tenor der angefochtenen Verfügung unter Ziffer 4 genannten Maßnahmen. [...]