VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - asyl.net: M17779
https://www.asyl.net/rsdb/M17779
Leitsatz:

An den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung ist auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) festzuhalten (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 [= ASYLMAGAZIN 7-8/2009, S. 28]).

Auch bei der Anwendung der Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG und der dort in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b geschützten Religionsausübungsfreiheit bestehen keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung pakistanischer Staatsangehöriger allein wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zur Ahmadiyyia-Glaubensgemeinschaft. Eine unmittelbare individuelle Gefahr der religiösen Verfolgung besteht allenfalls für pakistanische Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen (wie Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 -, juris [asyl.net, M13986]).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Pakistan, Ahmadiyya, religiöse Verfolgung, Gruppenverfolgung, Qualifikationsrichtlinie, erhebliche individuelle Gefahr, Asylfolgeantrag, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungsgefahr, Änderung der Rechtslage, religiöses Existenzminimum, Vorverfolgung, Verfolgungsdichte, Saik
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1, EMRK Art. 9 Abs. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Entsprechend der Berufungszulassung ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nur noch die von dem Kläger begehrte Verpflichtung zur Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht auch die im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.

Da der erste Asylantrag des Klägers bereits im Jahre 2006 bestandskräftig abgelehnt wurde, handelt es sich bei dem gegenständlichen Asylantrag um einen Folgeantrag. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor (1.). Auch hat sich unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG sowohl der flüchtlingsrechtliche Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit als auch der anwendbare Prognosemaßstab für eine festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit im Vergleich zu den im Asylerstverfahren einschlägigen Vorgaben verändert (2.). Jedoch kann sich der Kläger auch bei Anwendung dieses günstigeren Maßstabs für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf den Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung der Ahmadis berufen (3.). Eine - grundsätzlich denkbare - individuelle flüchtlingsrelevante Rückkehrgefährdung scheidet mangels hinreichender Glaubensgebundenheit des Klägers aus (4.). [...]

2.3. Nicht anders als im Falle des Asylgrundrechts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143) gilt auch hier, dass eine pauschale und rein formale Betrachtung aller Angehörigen einer Religionsgemeinschaft nicht sachgerecht sein kann und daher ausscheiden muss. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nach Maßgabe der jeweiligen religiösen Bindungen des einzelnen Asylsuchenden und abhängig von den Verhältnissen im Herkunftsland die Betroffenheit in dem Menschenrecht und daher dessen Beeinträchtigung überhaupt, jedenfalls aber deren Schwere völlig unterschiedliches Gewicht haben können. Allerdings ist an den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben für eine Gruppenverfolgung auch unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG festzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 sowie Beschluss vom 02.02.2010 - 10 B 18.09 -, juris). [...]

3. Der Kläger kann sich bei Anwendung dieser Grundsätze für den Fall seiner Rückkehr nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung der Gruppe der Ahmadis (oder der Untergruppe der ihren Glauben aktiv ausübenden Ahmadis) berufen.

3.1 Die Lage in Pakistan - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs des Klägers von Bedeutung ist - stellt sich auch im September 2010 im Wesentlichen so wie bereits im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) geschildert dar. [...]

3.2. Auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beansprucht die vom Senat in seinem Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) dargestellte Einschätzung der Lage weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Nach aktueller Erkenntnislage kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Risiko für einfache Ahmadi, mit einem Strafverfahren nach dem Blasphemieparagrafen sec. 295c des pakistanischen Strafgesetzbuches oder den sonstigen sogenannten "Ahmadi-Paragrafen" überzogen zu werden, signifikant erhöht hätte. Die vom Senat in dem genannten Urteil zugrunde gelegten Zahlenverhältnisse (vgl. insbesondere Randziffer 102 bis 104 im UA bei juris) treffen nach wie vor zu; allenfalls ist eine leichte Besserung der Verhältnisse eingetreten. So führt das Auswärtige Amt im seinem Lagebericht vom 22.10.2008 (Stand: September 2008) aus, dass im Jahre 2007 gegen 23 Ahmadis Anklage in Blasphemiefällen erhoben worden sei; die erhoffte Verbesserung der Lage sei deshalb nicht eingetreten. Die Zahl der Neufälle insgesamt stagniere bei ca. 50 pro Jahr und steige nicht weiter an. In seinem aktuellen Lagebericht vom 17.03.2010 (Stand: März 2010) geht das Auswärtige Amt für den Beurteilungszeitraum 2008 davon aus, dass gegen 14 Ahmadis wegen Blasphemie Anklage erhoben worden sei, mithin ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr beobachtet werden könne.

Insgesamt gesehen steht diese zahlenmäßige Entwicklung mit den sonstigen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismitteln in Einklang, auch wenn darin teilweise von leicht abweichenden Zahlen ausgegangen wird. So geht etwa das U.S. Department of State in seinem International Religious Freedom Report 2009 (Stand: 26. Oktober 2009) davon aus, dass nach eigenen Angaben von Organisationen der Ahmadiyya in Rabwah gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen Verstößen gegen die Religionsgesetze Strafverfahren eingeleitet worden seien, darunter in 18 Fällen wegen Blasphemievorwürfen und in 68 Fällen wegen Verstoßes gegen die sog. "Ahmadi-Gesetze". Zu ähnlichen Zahlen gelangte das Home Office in seinem Country of Origin Report Pakistan vom 18.01.2010. Dort wird unter Berufung auf Ahmadi-Quellen davon ausgegangen, dass von Juni 2008 bis April 2009 gegen insgesamt 88 Ahmadis wegen religiöser Gründe Strafverfahren eingeleitet worden seien, wobei eine genaue Unterscheidung der Vorwürfe und der Verfahrensstadien nicht erfolgt (vgl. Ziffer 19.63 des Reports). Ferner wird darin auch auf den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers angeführten Vorfall vom 8. Juni 2008 verwiesen, wonach ein FIR (First Information Report) gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah erstellt worden sei; dieser Vorfall wird vom U.S. Department of State in seinem Human Rights Report Pakistan 2009 (11. März 2010) bestätigt (S. 15). Entgegen der Meinung des Klägers kann aus letztgenanntem Vorfall jedoch nicht geschlossen werden, dass die vom Auswärtigen Amt wiedergegebenen Zahlen nicht mehr zutreffend sind. Wie sich insbesondere dem Human Rights Report Pakistan des U.S. Departement of State (S. 15) entnehmen lässt, hat das mit dem genannten FIR eingeleitete Verfahren bis zum dort genannten Zeitpunkt noch keinen Fortgang genommen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass dieser pauschale Vorwurf gegen die gesamte Ahmadi-Bevölkerung von Rabwah Anlass für weitergehende strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen einzelne Ahmadis bietet. Für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung können deshalb nur die Fälle berücksichtigt werden, in denen es tatsächlich zu individuellen Ermittlungsverfahren oder gar Anklagen gekommen ist. Neueres oder umfassenderes Zahlenmaterial, das eine abweichende Gefährdungsprognose ermöglichen könnte, liegt dem Senat nicht vor.

3.3. Dafür, dass generell jeder pakistanische Staatsangehörige allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Verfolgung zu gegenwärtigen hätte, bestehen nach den obigen Ausführungen und den dort verwerteten Erkenntnismitteln keine hinreichenden Anhaltspunkte. Soweit eine innere und verpflichtende Verbundenheit nicht festgestellt werden kann, sind die Betreffenden, selbst wenn man die vorgenannten rechtlichen und tatsächlichen Vorgaben zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie und deren Anwendung auf die Lage der Ahmadis in Pakistan zu ihren Gunsten unterstellt, nicht in dem erforderlichen Maße von den im Einzelnen festgestellten Verfolgungshandlungen betroffen. Insbesondere stellt es nach. Überzeugung des Senats keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar, wenn sich dieser Personenkreis in der Öffentlichkeit nicht als Muslim bezeichnen kann und darf. Die vom Senat verwerteten aktuellen Erkenntnismittel zeichnen, vor allem was den hier in erster Linie in den Blick zu nehmenden Aspekt der Verfolgungsdichte betrifft, kein grundlegend anderes Bild als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl. zu weiteren Nachweisen aus der auch älteren Rechtsprechung Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 -, a.a.O.). Nachdem nach wie vor die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan selbst davon ausgeht, dass sie insgesamt etwa 4 Millionen Angehörige zählt, darunter etwa 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder (vgl. Lagebericht des Antragsteller vom 17.03.2010, S. 13), sieht der Senat gegenwärtig keine ausreichende Grundlage dafür, dass die aktuelle Zahl in einem so signifikanten Maße darunter liegen könnte, dass eine vollständige Neubewertung des Bedrohungsszenarios erfolgen müsste.

Dies gilt selbst dann, wenn in der Betrachtung allein die Zahl der aktiv ihren Glauben ausübenden Ahmadis, also die oben genannten 500.000 bis 600.000 Mitglieder, zugrunde gelegt wird. Auch bei dieser Untergruppe ergibt sich nicht die hinreichende Verfolgungsdichte, die eine Gruppenverfolgung nach dem oben Gesagten voraussetzt. Diese Betrachtung wird, soweit ersichtlich, im Übrigen von der sonstigen oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geteilt (vgl. Sächs. OVG, Urteil vom 13.11.2008 - A 1 B 550/07 -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29.06.2005 - 2 L 208/01 -, juris).

4. Der Senat konnte, insbesondere aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, nicht die erforderliche Überzeugung gewinnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Falle einer Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. [...]