VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 25.03.2008 - M 11 K 08.50074 - asyl.net: M17774
https://www.asyl.net/rsdb/M17774
Leitsatz:

Einem Somalier, der aus Süd- oder Zentralsomalia stammt und der aufgrund seiner Eingebundenheit in seinen dort beheimateten Clan auch nur dorthin zurückkehren kann, drohen im Falle seiner Rückkehr lebensbedrohliche Gefahren.

Schlagwörter: Somalia, Südsomalia, Zentralsomalia, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Clan, Clanmilizen, interne Fluchtalternative, nichtstaatliche Verfolgung, Miliz, soziale Gruppe, Gefahr für Leib und Leben, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass jedenfalls in Süd- und Zentralsomalia keine eigentliche Staatsgewalt existiert, sondern dass die Lage weiterhin als anarchisch zu qualifizieren ist. Auch staatsähnliche Organisationen, die den Staat verdrängt haben, aber selbst staatliche Funktionen ausüben und auf ihrem Gebiet die effektive Gebietsgewalt innehaben, sind angesichts dieser Lage nicht feststellbar (vgl. auch HessVGH vom 30.10. 2003 - 4 UE 4952/96.A -).

Eine politische (= staatliche) Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG ist somit schon begrifflich nicht möglich.

Jedoch hat der Kläger Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Gegenüber der früheren Fassung des § 51 Abs. 1 AuslG und der hierzu ergangenen Rechtsprechung schließt aber der nunmehrige § 60 Abs. 1 AufenthG die Annahme einer politischen Verfolgung nicht mehr deshalb aus, weil diese nicht vom Staat ausgeht. Daher hat der Kläger nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG den Anspruch auf die Feststellung, dass seine Abschiebung nach Somalia wegen der ihm dort drohenden gravierenden Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit verboten ist. Dieselben Gründe, die nach der alten Rechtslage zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezüglich Somalia geführt haben, führen nunmehr zum Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, weil der Kläger nach der Sicherheitslage in Somalia in den jeweiligen Clangebieten schon allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem anderen Clan und damit wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an Leib und Leben bedroht ist, mögen diese Verfolgungsmaßnahmen auch zugleich als kriminelle Handlungen zu werten sein. Denn ganz allgemein lässt sich für Somalia feststellen, dass es dort wegen des Bürgerkriegszustands eine Achtung vor der physischen Unversehrtheit anderer Individuen nicht gibt. Alle Clanführer und Milizenchefs ohne Ausnahme zeigen sich bei der Wahl ihrer Mittel "nicht zimperlich" (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22.8.1996). Für die persönliche Sicherheit eines Somali ist die Eingebundenheit in eine Großfamilie (Clan, Sub-Clan, Stamm) von erheblicher Bedeutung. Gefahr für Leib und Leben droht in der Regel dann, wenn diese Gruppen in einem machtpolitischen Konkurrenzverhältnis stehen (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 22.8.1996 und vom 30.6.1997). Aufenthalte außerhalb des Gebietes des jeweils eigenen Clans bzw. eines Gebietes, das vom eigenen Clan kontrolliert wird, sind mit der Gefahr, getötet oder schwer verletzt zu werden, verbunden. Während im gesamten Norden des Landes Bewegungsfreiheit für Angehörige aller Clans herrscht, verhindern Kampfhandlungen, Willkürmaßnahmen unterschiedlicher Milizen und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber anderen Clans in den meisten Fällen Reisen durch die zentralen und südlichen Landesteile (vgl. Auswärtiges Amt vom 17.11.2003, a.a.O., S. 11; vom 13.12.2004, S. 13). Obwohl die Rückführung von Somalis zumindest nach Somaliland und Puntland grundsätzlich möglich sei, stehen dieser jedoch nach wie vor erhebliche praktische Probleme entgegen. Dabei wird zunächst erwartet, dass die Rückkehrer eine individuelle Wiedereingliederungshilfe in Form eines Geldbetrages mitbringen. Wegen der allgemeinen schwierigen Wirtschafts- und Sicherheitslage sind jedoch die Überlebensmöglichkeiten von Personen in Frage gestellt, die nicht über familiäre Bindungen verfügen und in diesem Rahmen unterstützt werden können. Bezüglich einer Rückkehr in das Zentrum und den Süden des Landes sind infolge der anhaltenden Gewalt und Unsicherheit sowie mehrerer Missernten in den vergangenen Jahren die Überlebensmöglichkeiten sehr begrenzt. Die größte Gefahr für Rückkehrer stellen lokale, clanbezogene Rivalitäten dar. So werden im Sinne einer Kollektivverantwortung einzelne Clan- oder Subclanmitglieder unter Umständen für Vorfälle verantwortlich gemacht, die teilweise Jahrzehnte zurückliegen. Rückkehrer, die in ein "falsches" Gebiet zurückgeführt werden, sind daher im Einzelfall einer schwer einzuschätzenden, jedoch möglicherweise sogar lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt (vgl. Auswärtiges Amt 2003, a.a.O., S. 14; 2004, S. 16). [...]

Für den Kläger besteht auch keine inländische Fluchtalternative in den nördlichen Regionen Somalias (Puntland und Somaliland). Auch wenn der Norden Somalias in den letzten Jahren eine erhebliche günstigere politische Entwicklung genommen hat als die übrigen Landesteile, besteht dort für Gebietsfremde keine Existenzmöglichkeit, da verwandtschaftliche Bindungen des Klägers dorthin nicht ersichtlich sind. Nach Auskunftslage ist eine Rückkehr nach Somaliland und Puntland allenfalls für Personen möglich, die aus der entsprechenden Region stammen und deren Überleben dort durch den Schutz einer Familie oder von Verwandten gewährleistet ist. [...]