VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 17.11.2009 - 7 K 788/09.WI.A - asyl.net: M17772
https://www.asyl.net/rsdb/M17772
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan (Shaanshi) und damit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. An der Bürgerkriegssituation in Somalia hat sich auch nach dem Nationalen Versöhnungskongress im Sommer 2007 nichts Wesentliches geändert, eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Somalia, Shaanshi, soziale Gruppe, Reer Hammar, Bürgerkrieg
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d
Auszüge:

[...]

Die auf die Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG und § 60 Abs. 1 AufenthG beschränkte Klage ist zulässig und begründet. [...]

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Somalia wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren für sein Leben und seine Freiheit, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, ohne dass ihm ein Staat, Parteien oder sonstige Organisationen Schutz vor dieser Verfolgung bieten könnten. Dem Kläger droht nach Überzeugung der Kammer in Somalia aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dem Clan der Shaanshi und damit wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83/EG von Seiten der Angehörigen anderer Clans Gefahren für Leib und Leben. Der Clan der Shaanshi gehört zum Stamm der Reer Hammar. Reer Hammar ist eine Zusammenfassung der untergeordneten Stämme Somalias aus dem Einzugsbereich Mogadischu. Es handelt sich dabei um die kleinen Volksgruppen, die nicht den großen Mehrheitsstämmen Hawiye und Habar Gidir angehören. Angehörige dieser Clans und des Stammes Reer Hammar werden in Mogadischu und Umgebung von den Mehrheitsstämmen allein wegen der Zugehörigkeit zu ihrem Volkstum unterdrückt. Sie verfügen über keinen Schutz. Sie werden ausgeraubt, Frauen des Stammes Reer Hammar unterliegen immer der Gefahr, von Angehörigen der Mehrheitsstämme vergewaltigt oder getötet zu werden. Eine Schutzmöglichkeit für Angehörige dieses Stammes gibt es weder innerhalb der somalischen Gesellschaft, noch durch internationale Organisationen. Somalia ist seit 1991 ohne international anerkannte Regierung. Eine zentralstaatliche Ordnung existiert nicht. Weite Teile des Landes einschließlich Mogadischu, dem Heimatort des Klägers, befinden sich in einem andauernden Bürgerkrieg und werden durch lokale Kriegsfürsten und ihre Milizen regiert. Dabei kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen rivalisierender Clanmilizen mit zum Teil erheblichen Opferzahlen. Folter und willkürliche Tötungen sowie die systematische Gewaltanwendung gegenüber feindlichen Clans und Subclans kennzeichnen die bürgerkriegsähnlichen Zustände. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht. Kampfhandlungen und Willkürmaßnahmen unterschiedlicher Milizen und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber anderen Clans machen es schwierig oder unmöglich, sichere Zufluchtsgebiete (etwa im Norden des Landes) tatsächlich zu erreichen. Zudem sind wegen der allgemeinen schwierigen Wirtschafts- und Sicherheitslage die Überlebensmöglichkeiten solcher Personen in Frage gestellt, die nicht vor Ort im Rahmen familiärer Bindungen unterstützt werden können. Lokale Rivalitäten stellen im Übrigen auch in vermeintlich sicheren Zufluchtsgebieten für Rückkehrer je nach Clanzugehörigkeit schwer einzuschätzende, möglicherweise aber lebensbedrohende Gefahren dar. An der Bürgerkriegssituation in Somalia hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Auch nach einem "nationalen Versöhnungskongress" im Sommer 2007 blieben die Machtverhältnisse in Zentral- und Südsomalia aber verworren bis anarchistisch. Die Übergangsregierung und die äthiopischen Truppen sahen sich vor allem in Mogadischu, aber auch in anderen Teilen des Landes, einem kontinuierlich wachsenden bewaffneten Widerstand gegenüber. Dessen stärkste Komponente bilden islamisch motivierte Kämpfer, vor allem radikalisierte Kämpfer der Gruppe "Al-Shabab", bei der es sich um eine terroristische Organisation handelt. Daneben gibt es nach wie vor unterschiedliche private Milizen, die häufig auch kriminell motiviert sind und teilweise in Opposition zur Übergangsregierung stehen. Das Fehlen einer funktionierenden zentralen Regierung hat zum Zerfall des Landes in Regionen mit unterschiedlich ausgeprägter quasi-staatlicher Ordnung, Rechtsstaatlichkeit und Justiz geführt. Es gibt keine flächendeckende, effektive Staatsgewalt; auch die neue Übergangsregierung/"Regierung der nationalen Einheit" hat große Teile des Landes nicht unter Kontrolle. Umfangreiche Gebiete werden nach wie vor von unterschiedlichen bewaffneten Gruppen beherrscht. Asylrechtlich potentiell relevante Vorgänge und Zustände in Somalia sind daher staatlichen Strukturen regelmäßig nicht eindeutig zuzuordnen, sondern resultieren häufig gerade aus der Abwesenheit solcher Strukturen (vgl. zuletzt die Berichte des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Somalia vom 05.05.2008 und 02.04.2009). Die größte Gefahr für Rückkehrer in das Zentrum und den Süden des Landes liegt in lokalen, Rivalitäten zwischen Clans. Rückkehrer sind u.a. in Abhängigkeit zu ihrer Clanzugehörigkeit eine im Einzelfall schwer einzuschätzenden möglicherweise sogar lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt. Extralegale Tötungen sowie willkürliche Verhaftungen durch Milizen und Banden sind unter den chaotischen und weitgehend rechtsfreien Bedingungen im Bürgerkriegsland Somalia weit verbreitet. Auch nach den übereinstimmenden Medienberichten haben sich die chaotischen Verhältnisse in Somalia seit 2008 nochmals verschlimmert. Im Folgenden verstärkte sich die Kampftätigkeit im Süden, insbesondere gelang offenbar islamischen Aufständischen, die einen brutalen Guerillakrieg führten, die Einnahme einer strategisch wichtigen Hafenstadt 500 km südlich von Mogadischu; die Al-Shabab-Miliz sei triumphierend durch die Stadt patrouilliert. Bei den Gefechten seien mindestens 70 Menschen gestorben (SZ vom 26.08.2008). Dabei hatten die Kämpfe auch verstärkt die Hauptstadt Mogadischu erreicht, wo sich insbesondere noch äthiopische Truppen und die Übergangsregierung aufhielten, die von den Al-Shabab-Milizen bedrängt werden, denen auch die Einnahme der Hafenstadt Merka rund 100 km südlich von Mogadischu gelang. Friedensbemühungen blieben erfolglos, weil die radikalen Islamisten einen Waffenstillstandsvertrag moderater Islamisten mit der Übergangsregierung ablehnten. Auch in Nordsomalia kam es zu einer Anschlagsserie mit mehr als 20 Toten (FAZ vom 02.08.2008; SZ vom 25.09.2008; TAZ vom 30.10.2008; FAZ vom 13.11.2008; FAZ vom 18.11.2008). Immer wieder gibt es auch aktuell zahlreiche Selbstmordattentate und andere Anschläge sowie Kämpfe unter Islamisten und Machtkämpfe der Milizen (SZ vom 22.08.2009; FAZ vom 24.08.2009; TAZ vom 01.09.2009; FR vom 18.09.2009; SZ vom 19.09.2009; NZZ vom 02.10.2009; SZ vom 02.10.2009). Bei den heftigen Kämpfen auch in Somalias Hauptstadt Mogadischu werden immer wieder zahlreiche Zivilisten getötet (taz vom 23.10.2009; SZ vom 24.10.2009).

Wegen der mangelnden Sicherheit für Angehörige des Clans der Shaanshi musste der Kläger mit seinen Eltern in einem Flüchtlingslager am Rande von Mogadischu leben, nachdem die Familie aus ihrem Haus in Mogadischu fliehen musste. Auch im Flüchtlingslager hatte die Familie nach den glaubhaften Darlegungen des Klägers keine Sicherheit gefunden, so dass sich seine Familie entschieden hat, ihn außer Landes bringen zu lassen. [...]