VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 06.07.2010 - 16 K 5092/09.A [ASYLMAGAZIN 2010, S. 415 f.] - asyl.net: M17759
https://www.asyl.net/rsdb/M17759
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr für konvertierte Christen im Irak (hier: Nordirak).

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylfolgeantrag, Irak, Nordirak, Flüchtlingsanerkennung, Konvertiten, nichtstaatliche Verfolgung, Apostasie, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, religiöse Verfolgung, Diskriminierung, subjektive Nachfluchtgründe, Nachfluchtgründe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4, AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 4, AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Klage hat teilweise Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 15. Juli 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sind vorliegend erfüllt. Da der frühere Asylantrag des Klägers vom 28. Juni 2006 durch Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 3. November 2007 im Verfahren 16 K 725/07.A unanfechtbar abgelehnt worden ist, handelt es sich bei dem Antrag des Klägers vom 6. Mai 2009 um einen Folgeantrag im Sinne von § 71 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. Nach § 71 Abs. 1 S. 1 AsylVfG besteht ein Rechtsanspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 AsylVfG vorliegen. Das ist hier der Fall: Der Wiederaufgreifensgrund liegt im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darin, dass sich die dem Ablehnungsbescheid vom 6. Februar 2007 zu Grunde liegende Sachlage nachträglich zu Gunsten des Klägers geändert hat. Die maßgebliche Änderung der Sachlage besteht hier in der Abwendung des Klägers vom islamischen Glauben und Hinwendung zum christlichen Glauben, die in der christlichen Taufe des Klägers am 12. September 2009 ihren förmlichen Abschluss gefunden hat. Da der Glaubenswechsel des Klägers erst nach der Unanfechtbarkeit des Ablehnungsbescheides vom 6. Februar 2007 stattgefunden hat, kommt ein grob schuldhaft verspätetes Geltendmachen des Wiederaufgreifensgrundes im Sinne von § 51 Abs. 2 VwVfG nicht in Betracht. Schließlich hat der Kläger auch die Antragsfrist nach § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten. Da es sich bei der Abwendung von der einen und Hinwendung zu einer anderen Religion regelmäßig um einen sich kontinuierlich entwickelnden Sachverhalt handelt, ist es in diesem Fall sachgerecht, eine Kenntnisnahme vom Wiederaufgreifensgrund erst dann anzunehmen, wenn sich die Hinwendung zur neuen Religion soweit konkretisiert hat, dass auch nach außen hin eine neue Qualität der Sachlage erkennbar geworden ist. Das entspricht vorliegend dem Zeitpunkt der Taufe des Klägers am 12. September 2009, mag auch die innere Hinwendung des Klägers zum Christentum sich über einen längeren - letztlich nicht objektiv bestimmbaren - Zeitraum erstreckt haben. [...]

Dem Kläger droht zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch quasistaatliche und nichtstaatliche Akteure gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 b) und c) AufenthG im Irak wegen seiner Konversion zum christlichen Glauben. [...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen ergibt die dem erkennenden Gericht zum Irak vorliegende Erkenntnislage hinsichtlich der Verfolgungsgefährdung bei Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben folgendes Bild:

Ob die Konversion eines Muslims zum Christentum unter Strafe steht, lässt sich nicht abschließend beantworten. Nach Angaben des UNHCR existiert bislang weder im Zivil- noch Strafrecht eine Bestimmung, die den Übertritt vom Islam zu einer anderen Religionsgemeinschaft unter Strafe stellt. Zudem wird die Freiheit der Religionsausübung durch die derzeit geltende Verfassung ausdrücklich garantiert und niemand darf wegen seiner Religion von Staats wegen diskriminiert werden (Art. 14 der irakischen Verfassung). Jedoch kann in Fällen, in denen das Gesetz keine ausdrückliche Regelung vorsieht, auf die inhaltlich nächstliegende Regelung des islamischen Rechts (Schari'a) zurückgegriffen werden. Die Schari'a sieht für den Abfall vom islamischen Glauben bzw. für den Übertritt vom zum Christentum oder zu einer anderen nicht-islamischen Religionsgemeinschaft die Todesstrafe vor (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update Irak: Die aktuelle Entwicklung im Zentral- und Südirak, vom 5. November 2009).

Die Todesstrafe wurde im August 2004 durch die irakische Übergangsregierung für bestimmte, schwerwiegende Delikte wieder eingeführt. Sie wird gegenwärtig sowohl im kurdisch verwalteten Teil des Nordiraks wie auch im Zentral- und Südirak auch verhängt und vollzogen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010, S. 29 f.).

Es ist jedoch bisher kein Fall bekannt geworden, in dem unter Rückgriff auf Bestimmungen der Scharia ein Todesurteil wegen Abfall vom islamischen Glauben oder wegen Konversion zum Christentum durch ein irakisches Gericht ausgesprochen wurde. Zudem sind keine Übergriffe staatlicher Stellen gegen Personen, die vom Islam zum Christentum konvertieren, bekannt geworden (vgl. zum Ganzen; amnesty international, Auskunft an das VG Leipzig vorn 7. Dezember 2006; GIGA-Institut für Nahost-Studien, Auskunft an das VG Aachen vom 2. April 2007; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2007)).

Es ist demnach nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines Übertrittes zum christlichen Glauben von staatlicher Seite Verfolgung droht.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt jedoch fest, dass Konvertiten vom Islam zum Christentum von der Familie im Irak hart sanktioniert werden und getötet werden können. Der Staat leite keine Strafverfolgung gegen die Familie oder gegen islamistische Gruppen ein, die einen Konvertiten getötet hätten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update Irak, a.a.O.).

Auch das GIGA-Institut für Nahost-Studien geht davon aus, dass der Abfall vom Islam, wenn er im Irak ernst genommen wird, keine rein private Handlungsweise, sondern politischen Hochverrat darstellt und dass für Fundamentalisten und gewalttätige oder gewaltbereite Fanatiker im Irak jeder, der den Islam verlässt, ein Abtrünniger und mit dem Tode zu bestrafen ist (vgl. GIGA-Institut für Nahost-Studien, Auskunft an das VG Aachen vom 2. April 2007).

Ein ausreichender staatlicher Schutz vor den Übergriffen nichtstaatlicher Akteure existiert im Irak nach der allgemeinen Sicherheitslage nicht (vgl. Auswärtigen Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 11. April 2010 (Stand: April 2010)).

Deshalb nimmt das erkennende Gericht an, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass dem Kläger wegen seines Übertrittes zum Christentum bei einer Rückkehr in den Irak zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt wegen seiner Konversion politische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, wenn die Tatsache seines Übertrittes zum Christentum z.B. durch die Nichtteilnahme an islamischen Riten bekannt wird oder er seinen Glauben öffentlich leben will, indem er z.B. christliche Gottesdienste besucht. Insofern unterscheidet das Gericht zwischen der Gruppe der originären Christen, bei denen es aufgrund mangelnder Verfolgungsdichte jedenfalls in der Herkunftsregion des Klägers keine bestehende Gruppenverfolgung annimmt (vgl. Urteil vom 22. Mai 2007 - 16 K 3205/06.A - und vom 3. April 2007 - 16 K 505/06.A -) und einzelnen zum Christentum konvertierten Gläubigen, die auf Grund der im islamischen Weltbild nicht vorgesehenen Abkehr vom Islam besonders im Blickfeld islamischer Fundamentalisten stehen.

Dies gilt auch für die Herkunftsregion des Klägers. Zwar ist die Lage für originäre Christen auf Grund der bestehenden Hilfsangebote im kurdisch verwalteten Teil des Nordiraks besser als im Zentral- und Südirak, so dass diese dort ihren Glauben ungehinderter leben können. Auch ist die Sicherheitslage im kurdisch verwalteten Teil des Nordiraks deutlich besser als im Rest des Landes. Obwohl die Regierung dort um eine demokratische Entwicklung bemüht ist, wird jedoch auch dort von schweren Menschenrechtsverstößen, vor allem durch die "Asayish" genannten Sicherheitskräfte, berichtet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010, a.a.O.).

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist nicht ersichtlich, warum islamistische Gruppierungen im Nordirak die Konversion eines Irakers vom Islam zum Christentum toleranter beurteilen sollten als im übrigen Teil des Iraks. Die vom Kläger dargestellte Reaktion der Familie auf seine Konversion spricht für das Gegenteil und entspricht der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, nach der kurdische Muslime, welche innerhalb der KRG-Provinzen zum Christentum konvertieren, vor allem auf privater Ebene auf Intoleranz stießen, während die KRG-Behörden die Christen generell respektieren würden. Konvertiten berichteten häufig von spürbarer alltäglicher Intoleranz und massiver Diskriminierung bis hin zu physischen Übergriffen der mehrheitlich islamischen Bevölkerung gegen Konvertiten selbst und gegen Personen, die der Mitwirkung an Konversionshandlungen bezichtigt würden. Es gäbe auch Berichte von Todesdrohungen gegenüber Konvertiten in Sulaimaniyah von Seiten der sunnitischen Extremisten. Die Konvertiten würden von der kurdisch-muslimischen Bevölkerung als "Abtrünnige" des islamischen Glaubens oder als "Gefahr für die Gesellschaft angesehen und oftmals von ihren (muslimischen) Familien verstoßen. Konvertiten könnten auch keinen staatlichen Schutz erwarten, da die Behörden, welche mehrheitlich aus kurdischen Muslimen bestehen, diese Praxis ebenfalls nicht tolerierten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Situation von religiösen Minderheiten in den von der KRG verwalteten Provinzen vorn 10. Januar 2008, S. 13 f.).

Als gefahrerhöhenden Umstand kommt für den Kläger hinzu, dass er in seinem Heimatstaat keine ebenfalls dem christlichen Glauben angehörende Verwandte oder Freunde hat, die ihm bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat Schutz gewähren könnten. [...]

§ 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Folgeverfahrens, der § 28 Abs. 2 AsylVfG entgegenwirken soll, lässt sich nicht feststellen. Das Gericht geht im Hinblick auf den nunmehr anderthalbjährigen regelmäßigen Besuch von Gottesdiensten und unter Berücksichtigung seiner Angaben in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass der Kläger sich auf Grund einer ernstlichen Gewissensentscheidung und nicht lediglich aus asyltaktischen Gründen vom Islam abgewandt und dem Christentum zugewandt hat. [...]