VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 15.12.2009 - 5 E 20198/09 We - asyl.net: M17726
https://www.asyl.net/rsdb/M17726
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland für die Dauer von sechs Monaten nach zweimal erfolgter Abschiebung nach Griechenland.

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Anmerkung der Redaktion: Die Entscheidung ist rechtskräftig.

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Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, einstweilige Anordnung, Rechtsschutzinteresse, Selbsteintritt
Normen: VwGO § 123 Abs. 5, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt worden ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden; in verfassungskonformer Auslegung dieses Ausschlusses vorläufigen Rechtsschutzes kommt die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist (so das Gericht in ständiger Rspr.).

In vorgängigen Beschlüssen zu vergleichbaren Sachverhalten kam es bereits zu Abschiebungsaussetzungen. An der Situation in Griechenland hat sich seit der letzten gerichtlichen Entscheidung substanziell zur Überzeugung des Gerichts bis heute nichts zum Positiven an der Lage in Griechenland verändert.

Im Gegenteil zeigen die aus allen allgemeinen Nachrichtenquellen ersichtlichen wochenlangen Ausschreitungen insbesondere in Athen, aber auch in zahlreichen anderen Großstädten Griechenlands, dass für Wochen selbst ein bloßer Aufenthalt im öffentlichen Raum Athens oder einer der griechischen Großstädte nicht ohne Gefahr für Leib und Leben möglich war, wobei zwar nicht zu jeder Zeit alle Stadtviertel überhaupt oder gleichermaßen gefährlich erschienen, es jedoch für einen nach Griechenland gelangenden ausländischen Asylbewerber, der im Regelfall der griechischen Sprache nicht oder nur in äußerst geringem Umfang mächtig sein dürfte, zumindest in diesem Zeitraum eine weitere Gefährdung bedeutete.

Aber auch unabhängig hiervon ist eine Veränderung der Sachlage hinsichtlich der Gewährleistungen im Asylsystem Griechenlands nicht deutlich geworden. UNHCR stellte in seiner Stellungnahme vom 29. Januar 2009 zwar noch da, dass sich die griechische Regierung gerade auch in Zusammenarbeit mit UNHCR bemüht, hat in einer Fact-Finding-Mission eine Reihe von Vorschlägen zu erarbeiten, die eine Änderung der gegenwärtigen Verhältnisse erreichbar machen. Jedoch war damals ein solcher verbindlicher Aktionsplan auch noch nicht verabschiedet. Daher hielt UNHCR an seinen Darlegungen die bereits auch Gegenstand der vorgängigen Entscheidung waren bereits zu diesem Zeitpunkt fest.

In diesem Sinne äußerte sich zu dieser Zeit auch der griechische Ombudsmann in seiner Stellungnahme vom Oktober 2008. Dort wird beschrieben, dass der Zugang zum Asylsystem im Wesentlichen nur einmal die Woche möglich ist und der Andrang an diesen Tagen die Aufnahmekapazitäten an diesen Tagen um ein Vielfaches überschreitet, so dass erst eine weitere Woche später wieder die Zugangsmöglichkeit überhaupt unter selbigen Vorzeichen besteht. Auch wird dargestellt, dass es hierbei häufig zu Gewalthandlungen kommt. Vor diesem Hintergrund und der damit einhergehenden Überlastung der griechischen Behörden ist die Aufnahme weiterer Asylanträge für zwei Monate überhaupt gänzlich ausgesetzt worden. Hieraus ergibt sich für die nicht angenommenen potentiellen Asylbewerber das Problem der drohenden Inhaftierung und oder Rückführung in ihr Herkunftsland. Der Ombudsmann bezeichnete die dortigen Verhältnisse beschreibend mit "schwerer humanitärer Krise".

Nunmehr hat UNHCR nach dem Präsidialerlass Nr. 81/2009 sogar entschlossen, sich am griechischen Asylsystem nicht mehr zu beteiligen. Durch den Erlass wurde der Rechtsweg für Asylsuchende in Griechenland nochmals verkürzt (im Weiteren vgl. Übersetzung der Pressemitteilung vom 17. Juli 2009 - Bl. 80, 81 der Gerichtsakte).

Hieraus lässt sich derzeit nicht erkennen, dass gegenwärtig für den Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Griechenland der Zugang zum griechischen Asylsystem gewährleistet wäre. Soweit das Bundesamt auf die Zielstellungen aus dem Präsidialerlass 81/2009 argumentiert, ist bislang in keiner Weise erkennbar, dass dies bereits umgesetzt und durchgeführt ist. Zudem liegen auch keine Erkenntnisse hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen der Rechtswegverkürzung vor. Dass die Antragsgegnerin die Situation in Griechenland anders einschätzt, ändert hieran nichts und wurde vom Gericht wie im bereits früher entschiedenen Verfahren zur Kenntnis genommen. Für die Auffassung der Antragsgegnerin spricht derzeit auch nicht, dass es in Griechenland mittlerweile eine andere Regierung gibt. Zwar hat diese Änderungen in der Praxis in Aussicht gestellt, jedoch sind bislang weder Vorstellungen noch tatsächliche Änderungen nach außen getreten.

Die vorliegend befristet erlassene einstweilige Anordnung soll der Antragsgegnerin die Möglichkeit einräumen, unter Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen von ihrem Ermessen dahingehend Gebrauch zu machen, dass sie sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO für zuständig erklärt. Sofern die Antragsgegnerin sich dazu nicht entschließt, hat sie andererseits die Möglichkeit, während des Anordnungszeitraums von den griechischen Behörden konkrete Garantien dazu einzuholen, dass bei einer Überstellung des Antragstellers diesem umgehend eine Registrierung seines Asylantrags sowie Informationen unter Hinzuziehung eines anerkannten Dolmetschers und Rechtsbeistand ermöglicht wird, dieser in einer angemessenen Unterkunft ohne Haftcharakter untergebracht wird und im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung besteht. Soweit entsprechende Garantien vorliegen, sähe das Gericht voraussichtlich die aufgezeigten drohenden Nachteile als ausgeräumt an, und soweit die Überstellungsfrist gleichzeitig noch als eingehalten gewertet werden könnte.

Der Antragsteller hat die Möglichkeit, im Fall, dass die Antragsgegnerin sich nicht zum Selbsteintritt entschließt, im Zusammenhang mit dem Ablauf des Anordnungszeitraums erneut eiligen Rechtsschutz zu beantragen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist allein die befristete Anordnung der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebung nochmals geboten und notwendig, um für den Antragsteller drohende irreversible Nachteile zu verhindern. [...]