VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 11.10.2010 - A 2 L 1109/10 - asyl.net: M17703
https://www.asyl.net/rsdb/M17703
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland bis zum Ablauf von zwei Wochen nach Eintritt der Rechtskraft einer auf die mündliche Verhandlung am 28.10.2010 ergehende Entscheidung des BVerfG (2 BvR 2015/09).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, einstweilige Anordnung
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

2. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus andere Gründen nötig erscheint. Der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Das Gericht ist an den gestellten Antrag nicht gebunden, sondern kann alle geeigneten Maßnahmen treffen, um einen bestimmten Zustand vorläufig zu gewährleisten.

Nach Auffassung der Kammer steht dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zwar grundsätzlich die zwingende Vorschrift des § 34a Abs. 2 AsylVfG entgegen. Danach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. § 34a Abs. 2 AsylVfG ist nach Auffassung des Gerichts bei verfassungskonformer Auslegung auch als verfassungsgemäß anzusehen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Rn 33 ff. zu § 34a AsylVfG). Eine vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO kommt in verfassungskonformer Auslegung des § 34a Abs. 2 AsylVfG daher nur dann in Betracht, wenn der Ausländer Einwendungen zu einer individuellen Gefährdung im Drittstaat geltend macht. [...]

Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der soeben genannten, im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An diese Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen (VG München, B. v. 28.05.2010 - M 16 E 10.30356 -, juris).

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts bedürfte es hierfür eines substanziierten Vortrags des Antragstellers, nach dem er auf Grund seiner persönlichen Verhältnisse im Drittstaat mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit entweder einer konkreten Gefahr für Leib und Leben oder politischer Verfolgung, unmenschlicher Behandlung oder auch einer individuellen Schutzverweigerung ausgesetzt sein wird. Im Falle einer solchen besonderen individueller Schutzbedürftigkeit mag in Betracht kommen, dass von einer Überstellung in den nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Staat abgesehen wird. Solche Gründe hat der Antragsteller nicht im Ansatz vorgetragen, so dass ein Abweichen von der gesetzgeberischen Wertung, dass in allen EU-Mitgliedstaaten ein ordnungsgemäßes Asylverfahren durchgeführt wird, mit der Folge, dass die Abschiebung in einen solchen Staat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf, nicht zu rechtfertigen wäre.

Darüber hinaus liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Griechenland selbst konkret gegen den Antragsteller zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird. Dass Griechenland gerade dem Antragsteller Schutz dadurch verweigert, dass es sich ihrer ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird, ist ebenfalls nicht ersichtlich.

Der europäische Verordnungsgeber und das deutsche Grundgesetz in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG gehen im Übrigen übereinstimmend davon aus, dass Griechenland als Mitgliedsstaat der Europäischen Union geeigneter und vollwertiger Teilnehmer des durch die Verordnung (EG Nr. 343/2003) etablierten Verfahrens bzw. sicherer Drittstaat im Sinn des § 26a AsylVfG i.V.m. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG ist. Der Antragsteller hat auch nicht hinreichend substanziiert vorgetragen, die Verhältnisse in Griechenland hätten sich so plötzlich geändert, dass es der bundesdeutschen Regierung noch nicht möglich gewesen ist, darauf entsprechend zu reagieren. Vielmehr geht aus den vom Antragsteller selbst vorgelegten Unterlagen hervor, dass die Bundesregierung weiterhin vom Vorliegen der bisherigen Verhältnisse in Griechenland ausgeht.

Dem widersprechen auch die aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfG, B. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, 1281) nicht. In diesen hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere keinen faktischen Abschiebestopp von Asylbewerbern nach Griechenland ausgesprochen. Es hat vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Ausgang der Verfassungsbeschwerdeverfahren offen ist. Zur Verfassungsmäßigkeit vorausgegangener Entscheidungen oder geplanter Abschiebungen äußert sich das Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen nicht. Die Erfolgsaussichten seien unter Berücksichtigung der Situation von Asylantragstellern in Griechenland nicht von vornherein offensichtlich zu verneinen. Allerdings seien sie angesichts des Umstands, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt worden seien, die Vergewisserung hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst erfolgt sei und die Entscheidung nicht durch eine Rechtsverordnung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden könne, auch nicht offensichtlich zu bejahen. Vielmehr wird allein eine Abwägung vorgenommen zwischen der Konstellation, dass dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt bliebe, er aber in der Hauptsache obsiegte, und derjenigen, dass die einstweilige Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe. Im ersten Fall könnten möglicherweise bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. So wäre bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt, sollte ihm in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen. Da die Nachteile, die im zweiten Fall entstünden, dagegen weniger schwer wögen, hat das Bundesverfassungsgericht den Anträgen stattgegeben. Eine inhaltliche Aussage zur Verfassungsmäßigkeit und zu einer eventuell verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung von § 34a AsylVfG wird hingegen nicht getroffen (vgl. VG München, B. v. 28.05.2010 - M 16 E 10.30356 -, juris).

Die Kammer nimmt diese Situation jedoch in Ansehung der für den 28.10.2010 anberaumten mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass, dem Begehren des Antragstellers durch den Erlass einer einstweilige Anordnung zu entsprechen, um ihm keine Rechte zu verwehren, die das Bundesverfassungsgericht anderen Asylbewerbern zugesprochen hat, indem es deren Abschiebung vorläufig ausgesetzt hat. Sie sieht sich hierzu veranlasst, weil dem Antragsteller im Falle einer einfachverwaltungsgerichtlichen Ablehnung seines Begehrens die Möglichkeit eröffnet würde, das Bundesverfassungsgericht anzurufen und dieses eine Abschiebung des Antragstellers auf dessen Antrag hin vorläufig aussetzen würde, wie es das in anderen vergleichbaren Fällen, die an das Bundesverfassungsgericht herangetragen worden sind, auch getan hat. Unter diesen Umständen sieht die Kammer es für gerechtfertigt an, selbst den Vollzug einer Abschiebung vorläufig zu unterbinden, um dem Antragsteller eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu ersparen, insbesondere da damit zu rechnen ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Zuge der mündlichen Verhandlung am 28.10.2010 eine endgültige allgemeine Klärung der Möglichkeit von Abschiebungen nach Griechenland herbeiführen wird. [... ]