VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 14.09.2010 - 2 A 180/10 - asyl.net: M17660
https://www.asyl.net/rsdb/M17660
Leitsatz:

1. Keine Flüchtlingsanerkennung wegen "westlichen Lebensstils", da es der Klägerin zuzumuten ist, in Syrien ihr Verhalten den Landessitten anzupassen.

2. Es stellt auch keine politische (geschlechtsspezifische) Verfolgung dar, wenn ein Staat abweichend vom deutschen Recht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Kinder nicht der Mutter, sondern dem Vater zuordnet. Im Übrigen liegt es im Entscheidungsermessen der Klägerin, ob sie in Syrien den Vater der Kinder den Behörden benennt oder nicht. Wenn sie dies unterlässt und nicht in ihre Heimatregion zurückkehrt, besteht die Gefahr einer Aufenthaltsbestimmung durch den biologischen Kindesvater oder dessen Verwandte nicht.

3. Aber Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Es muss davon ausgegangen werden, dass das Haus ihrer Familie inzwischen von arabischen Dorfbewohnern in Beschlag genommen wurde und der Klägerin, einer alleinstehenden Frau mit zwei Kindern, nicht herausgegeben werden würde. Erschwerend kommt hinzu, dass die Klägerin nicht nur Kurdin ist, sondern auch Yezidin, und nicht die syrische Staatsangehörigkeit besitzt.

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylfolgeantrag, Syrien, Abschiebungsverbot, ungeklärte Staatsangehörigkeit, Kurden, Yeziden, Frauen, alleinerziehend, Deutsch-Syrisches Rückübernahmeabkommen, Wiederaufnahme des Verfahrens, geschlechtsspezifische Verfolgung, Asylrelevanz, Existenzgrundlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 71, VwVfG § 51
Auszüge:

[...]

Soweit die Klägerin geltend macht, ihr drohe politische Verfolgung wegen ihres "westlichen Lebensstils", den sie nicht abzulegen gedenke, sowie hinsichtlich der befürchteten Kindesentziehung, ist das Bundesamt zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dann, wenn mehrere Gründe für das Wiederaufgreifen eines Verwaltungsverfahrens geltend gemacht werden, für jeden der Gründe die 3-Monats-Frist selbständig läuft (BVerwG NVwZ 1990, 359, 360; NVwZ 1993, 788). Ein einmal verfristeter Grund ist bei Zulässigkeit des Antrags wegen eines anderen Grundes nicht mehr zu berücksichtigen (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, Kommentar zum VwVfG § 51 Rn 139). Da die Klägerin spätestens mit dem Abschluss des Rückübernahmeabkommens befürchten musste, nach Syrien abgeschoben zu werden, hätte sie bezogen auf die vorstehend genannten Gründe innerhalb von drei Monaten nach Bekanntwerden der Vereinbarung, die in Kreisen abgelehnter syrischer Asylbewerber umgehend publiziert wurde und bereits im Februar 2009 zu Protestaktionen führte, einen Folgeantrag stellen müssen. Ginge man davon aus, dass ein bestandskräftig abgelehnter Asylbewerber auch bei zeitweiligen Abschiebungshindernissen stets mit seiner Abschiebung rechnen muss und deshalb asylrelevante Veränderungen den Fristenlauf sofort in Gang setzen, hätte der Antrag sogar noch früher gestellt werden müssen, was hier jedoch dahingestellt bleiben kann. Umstände, die eine nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 49 Abs. 1 VwVfG zulässige, vom Bundesamt aber abgelehnte Ermessensentscheidung zugunsten der Klägerin auf Null reduziert hätten, sind nicht ersichtlich.

Im Übrigen ist das Vorbringen der Klägerin zur "Verwestlichung" und zu drohenden Kindswegnahme auch nicht geeignet, eine ihr günstigere Entscheidung herbeizuführen. Soweit sie wegen ihrer "westlichen" Lebensweise Übergriffe befürchtet, ist es ihr zuzumuten, ihr Verhalten den herrschenden Landessitten anzupassen (vgl. OVG Koblenz, Beschl. vom 17.02.2002 - 6 A 10217/01 -, NVwZ-Beilage 19/2002, 100; VGH Kassel, Beschl. vom 26.06.2007 - 8 ZU 452/06.A -). Da solche Übergriffe alle in Syrien lebenden Bewohner aufgrund des dort herrschenden Systems bei unislamischem Verhalten in der Öffentlichkeit allgemein hinzunehmen haben, können diese auch nicht als Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG Berücksichtigung finden (vgl. OVG Münster, 28.02.2008 - 20 A 5211/05.A -).

Hinsichtlich der kindesbezogenen Aufenthaltsbestimmung durch den Vater bzw. für die Dauer seiner Abwesenheit durch dessen männliche Verwandte gilt Vergleichbares. Es stellt keine politische Verfolgung dar, wenn ein Staat abweichend von dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Recht das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht der Mutter, sondern dem Vater zuordnet (vgl. zu einer ähnlichen Regelung im Libanon: VGH Mannheim, Urt. vom 22.05.2003 - A 2 S 711/01 -, juris). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 09.07.2009 (Gz. 508-516.80/3 SYR) ist zu entnehmen, dass Frauen in Syrien bezüglich ihrer Kinder das Personenfürsorgerecht haben, nicht jedoch das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Darin liegt keine geschlechtsspezifische Verfolgung der Mutter i. S. des § 60 Abs. 1 AufenthG. Soweit die Klägerin befürchtet, sie könne auch das ihr nach syrischem Recht zustehende Sorgerecht nicht geltend machen, weil ihr die Kinder vorenthalten würden, ist dieser Vortrag unsubstantiiert geblieben und beruht auf Mutmaßungen, die auf keine näher dargelegten Umstände gestützt sind. Im Übrigen liegt es im Entscheidungsermessen der Klägerin, ob sie im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien den Vater der Kinder den Behörden benennt oder nicht. Wenn sie dies unterlässt und nicht in ihre Heimatregion zurückkehrt, besteht die Gefahr einer Aufenthaltsbestimmung durch den biologischen Kindesvater oder dessen Verwandte nicht.

Eine neue Sachlage, die einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs.1 bis 3 VwVfG auslöst und die von der Klägerin fristgerecht geltend gemacht wurde, ergibt sich allerdings aus dem Umstand, dass mehrere nach dem Inkrafttreten des Rückübernahmeabkommens abgeschobene Personen inhaftiert wurden. Hierbei handelte es sich um Personen die nach rechtlicher Prüfung in der Bundesrepublik Deutschland weder als politisch verfolgt, noch als von Verfolgung bedroht angesehen wurden, da sie andernfalls nicht abgeschoben worden wären. Ihre Inhaftierung kann deshalb entweder ein Indiz dafür sein, dass die Verfolgungsprognose fehlerhaft war, weil unzutreffend eine gewisse Toleranz des syrischen Staates angenommen wurde, oder dass andere Umstände die Maßnahmen begründeten. Jedenfalls konnte die Klägerin beanspruchen, dass im Lichte dieser Vorkommnisse erneut über ihr Gesuch um Flüchtlingsschutz entschieden wird. [...]

Für die Klägerin besteht jedoch ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn für ihn dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das ist hier der Fall. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend vorgetragen, dass sie in Syrien keine Verwandten mehr hat, auf die sie sich zur Sicherung ihrer Existenz stützen könnte. In ihrem Heimatdorf lebten im Jahr 1999, als sie Syrien verließ, nur zehn kurdische Familien. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass das Haus ihrer Familien inzwischen von arabischen Dorfbewohnern in Beschlag genommen wurde und an die Klägerin, eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern, nicht herausgegeben werden würde. Erschwerend kommt hinzu, dass die Klägerin nicht nur Kurdin ist, sondern auch Yezidin, und nicht die syrische Staatsangehörigkeit besitzt. Das Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass sie sich im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien auf zumutbare und legale Weise keine wirtschaftliche Existenzgrundlage aufbauen könnte. [...]