VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 30.09.2010 - VG 15 L 306.10 - asyl.net: M17647
https://www.asyl.net/rsdb/M17647
Leitsatz:

Rechtliches Abschiebungshindernis zum Schutz der Familie für den vietnamesischen Vater eines vietnamesischen Kindes, dessen Mutter ein weiteres (auch) deutsches Kind hat. Die Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragstellers würde dazu führen, dass der fünf Jahre alte Sohn entweder für längere Zeit von seinem Vater oder seiner Mutter getrennt werden würde. Die Trennung könnte nur vermieden werden, wenn das (auch) deutsche Kind der Lebensgefährtin des Antragstellers mit der Mutter und dem Halbbruder für eine derzeit nicht absehbare Zeit Deutschland verlassen müsste. Dies ist nicht zumutbar.

Schlagwörter: Duldung, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, deutsches Kind, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft, Visumsverfahren, Zumutbarkeit, außergewöhnliche Härte, Sicherung des Lebensunterhalts
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 3, GG Art. 11, AufenthG § 36 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erteilung einer vorläufigen Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht. Die Kammer geht unter Bezugnahme auf die Gründe des Beschlusses vom 10. Juni 2010 (VG 15 L 117.10) weiterhin davon aus, dass der Antragsteller mit seinem am ... 2005 geborenen Kind ... in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Hierfür spricht auch, dass laut Polizeibericht vom 9. Juni 2010 der Antragsteller von der Polizei in der Wohnung in der ... in Berlin zusammen mit den Kindern ... und ... in Abwesenheit der Kindesmutter angetroffen wurde, während die Kinder sich vor dem ins Bett gehen gerade die Zähne putzten und sich wuschen. Die Tatsache, dass der Antragsteller bei dem unangekündigten Besuch gerade die Kinder ins Bett gebracht hat, ist ein zusätzliches Indiz dafür, dass die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinem Sohn tatsächlich gelebt wird.

Die Abschiebung des Antragstellers ist aus rechtlichen Gründen unmöglich, da die bestehende schützenswerte Vater-Kind-Beziehung zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn nach Auffassung der Kammer derzeit nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden kann, weil der deutschen Halbschwester des Sohnes des Antragstellers, ..., und damit auch den anderen Familienmitgliedern das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist.

Die Frage, ob ein deutscher Staatsangehöriger darauf verwiesen werden kann, die familiäre Lebensgemeinschaft mit anderen ausländischen Familienangehörigen im Ausland zu führen, wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Ehegattennachzug zu Deutschen wegen der Regelung in § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG diskutiert, wonach in bestimmten Ausnahmefällen (nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 171) beispielsweise, weil der Deutsche Doppelstaatler ist oder auch im Heimatland des ausländischen Ehegatten lange Jahre gelebt und gearbeitet hat) auch bei Familiennachzug zu Deutschen die Sicherung des Lebensunterhaltes gefordert werden kann. In der Rechtsprechung wird in den Fällen des § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG überwiegend vertreten, dass es einer Abwägung aller Umstände des konkreten Falls bedarf, um festzustellen, ob es dem deutschen Ehegatten zuzumuten ist, die eheliche Lebensgemeinschaft im Ausland zu führen (vgl. VG Berlin, Urteil vom 25. März 2010 - VG 16 K 159.09 V - m.w.N. juris). Nichts anderes kann für die Beurteilung der Frage gelten, ob ein minderjähriges Kind, das (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit hat, darauf verwiesen werden kann, die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen ausländischen Familienangehörigen im gemeinsamen Herkunftsland fortzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass deutsche Staatsangehörige gem. Art. 11 GG das Recht zur Freizügigkeit im Bundesgebiet haben. Daher können weder allein die Tatsache der doppelten Staatsangehörigkeit noch die fehlenden Kontakte zum deutschen Elternteil (deren Bestehen keine Voraussetzung dafür ist, dass das deutsche Kind das Recht hat, sich in der Bundesrepublik aufzuhalten) die Zumutbarkeit der Verlagerung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Land begründen (a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 23. Mai 2006 - OVG 12 S 8.06 -; vom 16. September 2009 - OVG 12 S 81.09 -; vom 9. Juli 2010 - OVG 3 S 33.10) Vielmehr muss zunächst unter Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände eine Abwägung vorgenommen werden.

Im konkreten Fall stellt sich die Situation der Familie des Antragstellers wie folgt dar: Die Tochter der Lebensgefährtin des Antragstellers hat die deutsche und die vietnamesische Staatsangehörigkeit. Sie ist 7 Jahre alt und hat ihr bisheriges Leben - bis auf möglicherweise stattgefundenen Besuchsaufenthalte in Vietnam - in Deutschland verbracht und besucht die 2. Klasse der Grundschule. Deshalb sind ihre Bindungen zu Deutschland nicht unbedeutend, so dass es ihr schwerlich zugemutet werden kann, ihre laufende Schulausbildung in Deutschland zu unterbrechen. Dies wäre jedoch die Folge, wenn die Ausreisepflicht des Antragstellers durchgesetzt werden würde.

Der Antragsteller hat zwar in der Vergangenheit gegen ausländerrechtliche Vorschriften verstoßen, da er unerlaubt eingereist ist und sich im Jahr 2007 der Abschiebung entzogen hat. Es wäre jedoch unverhältnismäßig, ihn auf die Nachholung des Visumverfahrens zu verweisen, da davon auszugehen ist, dass er nicht in absehbarer Zeit mit einem Visum wieder nach Deutschland einreisen dürfte. Der Antragsteller ist mit der Mutter seines Kindes nicht verheiratet und daher käme derzeit als Rechtsgrundlage für den Nachzug zu seinem ausländischen Kind nur § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht. Die Vorschrift setzt jedoch eine außergewöhnliche Härte voraus, die der Antragsteller belegen müsste. Auch im Falle einer Heirat mit der Kindesmutter ist abzusehen, dass sich das Visumverfahren wegen der Frage der Sicherung des Lebensunterhaltes lange hinziehen würde. Damit ist davon auszugehen, dass die Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragstellers dazu führt, dass der 5 Jahre alte Sohn des Antragstellers entweder für längere Zeit von seinem Vater oder seiner Mutter getrennt werden würde und die Trennung nur dann vermieden werden könnte, wenn das (auch) deutsche Kind der Lebensgefährtin des Antragstellers mit der Mutter und dem Halbbruder für einen derzeit nicht absehbaren Zeitraum Deutschland verlassen müsste. Dies ist aus den oben genannten Gründen nicht zumutbar. [...]