VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 17.06.2010 - 4 A 29/10 - asyl.net: M17636
https://www.asyl.net/rsdb/M17636
Leitsatz:

Keine Verfolgungsgefahr wegen nicht exponierter exilpolitische Betätigung in Syrien.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Syrien, Kurden, Yeziden, Exilpolitik, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Wiederaufnahme des Verfahrens, Yekiti
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 28 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Nach § 28 Abs. 2 AsylVfG kann in einem Asylfolgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrages erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat. § 28 Abs. 2 AsylVfG trifft eine Sonderregelung für die Behandlung ausschließlich subjektiver selbst geschaffener Nachfluchtgründe, die nach dem unanfechtbaren Abschluss eines früheren Asylverfahrens, das auch bereits ein Folge- oder Zweitverfahren gewesen sein kann, entstanden sind. Sie schließt deren Berücksichtigung im Regelfall aus (Funke-Kaiser, in: GK zum AsylVfG, Band 2, Stand 11/2007, § 28 Rdnr. 56).

So liegt es hier. Der Kläger hat sich exilpolitisch betätigt und u.a. an Demonstrationen teilgenommen sowie zwei Artikel im Internet veröffentlicht. Insoweit ist der Kläger jedoch von der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AsylVfG ausgeschlossen. Denn der Gesetzgeber wollte in Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Amtsblatt Nr. L 304 vom 30.09.2004; S. 12 - 23) den Anreiz nehmen, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen (BT-Drs. 15/420, 109 f.).

Die Regelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG greift im vorliegenden Fall ein. Auf das Vorliegen eines Ausnahmefalles kann sich der Kläger nicht berufen. Zwar wird in der Rechtsprechung teilweise das Vorliegen eines Ausnahmefalles in den Fällen angenommen, in denen exilpolitische Aktivitäten in einem Vorverfahren, deren Bedeutung und Ausmaß nicht zu einer Anerkennung geführt haben, in einem Folgeverfahren in qualifiziertem Maße fortgesetzt werden und aufgrund dieser Aktivitäten eine relevante Verfolgungsgefahr besteht (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 2. März 2005, 4 A 38/03 -, zit. nach juris, Rdnr. 26 m.w.N.). Es kann nach Auffassung der Kammer dahinstehen, ob dieser Rechtsprechung zu folgen ist (ablehnend insoweit: OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19. Dezember 2006 - 1 L 319/04 -, zit. nach juris, Rdnr. 33 m.w.N.). Denn der Kläger hat sich erst nach Abschluss des vorangegangenen Asylverfahrens exilpolitisch betätigt. In der mündlichen Verhandlung führte er aus, seit ca. 4 Jahren in Deutschland politisch aktiv zu sein. Im Erstverfahren hat er über politische Aktivitäten in Syrien nichts berichtet. Seine angebliche Furcht vor Weitergabe von Informationen an syrische Stellen durch das Bundesamt als Grund für das Verschweigen derartiger Aktivitäten im Erstverfahren wertet das Gericht als Schutzbehauptung. [...]

Hiervon ausgehend hat der Kläger keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG. Im Hinblick auf die angeblich zwangsweise Namensänderung ist die 3-Monatsfrist nach § 51 VwVfG nicht eingehalten. Abgesehen davon hat er in der Anhörung am 04. Juni 2009 angegeben, dass aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen beide Namen in der Familie genutzt würden. Dann kann von einer "zwangsweisen Namensänderung" durch die Behörden keine Rede sein. Wegen der exilpolitischen Betätigungen besteht ebenfalls kein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung des Klägers. Nach Abschluss des vorangegangenen Asylverfahrens mit Nichtzulassungsbeschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 21. September 2004, in dem ein Anspruch des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 AufenthG bestandskräftig abgelehnt worden ist, hat sich die Sachlage nachträglich nicht zu Gunsten des Klägers geändert. Aufgrund der vom Kläger durchgeführten exilpolitischen Betätigungen ist nicht davon auszugehen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Syrien einer erheblichen konkreten Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für das Rechtsgut "Freiheit" ausgesetzt wäre.

Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Kläger an Demonstrationen vor der syrischen Botschaft in Berlin sowie vor dem Brandenburger Tor teilgenommen hat und dort auch Transparente getragen hat. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung hat er sich als Ordner betätigt. Zudem geht das Gericht davon aus, dass er an einer Demonstration im Steintorviertel in Hannover teilgenommen hat und dort eine Erklärung zur Lage der Yeziden verlesen hat. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass er Zeitungen der Yekiti in Norddeutschland verteilt und Mitglied der Yekiti-Partei ist. Dabei handelt es sich insgesamt jedoch um keine herausgehobenen exilpolitischen Aktivitäten weder ihrer Qualität noch ihrer Quantität nach. An den Demonstrationen nahmen nach Angaben des Klägers mehrere 100 Teilnehmer teil. Dass syrische Sicherheitskräfte gerade den Kläger als für den Bestand des Regimes gefährlichen politischen Aktivisten wahrnehmen, ist nicht wahrscheinlich. Derartige Aktivitäten werden gleichsam routinemäßig seit Jahren durch die syrischen Asylbewerber in Deutschland durchgeführt. Auch unter Berücksichtigung der in jüngster Zeit dokumentierten Festnahmen und Übergriffe syrischer Sicherheitskräfte auf zurückkehrende Syrer im Rahmen des Rückübernahmeabkommens ist nicht der Rückschluss gerechtfertigt, dass jeder Rückkehrer aus Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerheblichen Übergriffen ausgesetzt sein wird. Abgesehen davon, dass die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers nicht über das hinausgehen, was bei zahlreichen Landsleuten der Fall ist, ist auch ein System der syrischen Sicherheitskräfte bei Einreise abgeschobener Asylbewerber nicht erkennbar. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass jeder Rückkehrer gleichsam sehenden Auges relevanten Übergriffen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ausgesetzt wäre (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 19. April 2010 - 14 A 729/10.A - Juris).

Die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers rechtfertigen auch eine - erneute - Ermessensentscheidung nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG nicht. Diesen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung hat das Bundesamt im Bescheid vom 09. Juli 2009 in rechtlich nicht zu beanstandender Weise erfüllt. In der Rechtsprechung ist insoweit anerkannt, dass bei aus Syrien stammenden Asylbewerbern neben der kurdischen Volkszugehörigkeit im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten müssen. Solche Umstände liegen dann vor, wenn es sich um regimefeindliche Aktivitäten handelt, durch die sich das syrische Regime in seinem Bestand bedroht fühlt und diese Aktivitäten sich deutlich von den exilpolitischen Betätigungen zahlreicher anderer syrischer Staatsangehöriger in Deutschland abheben und damit in besonderer Weise aus den Kreis der üblichen exilpolitischen Betätigungen herausragen (vgl. insoweit: Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 2. Juli 2003 - 2 LA 173/02 -, Rechtsprechungsdatenbank OVG m.w.N.).

Für die hier vorzunehmende Einzelfallbeurteilung kann zwar angenommen werden, dass sich der Kläger in der vorgetragenen Art und Weise engagiert hat. Er hat sich öffentlich gegen die syrische Regierungspolitik ausgesprochen. Es lässt sich aber gleichwohl nicht feststellen, dass es dabei um solch gewichtige regimefeindlichen Aktivitäten handelt, durch die sich das syrische Regime in seinem Bestand bedroht fühlen könnte. Auch aus Sicht syrischer Sicherheitsorgane ist ersichtlich, dass sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Ausland die Anzahl exilpolitischer Betätigungen erhöht, so dass allein aus der größeren Anzahl derartiger Aktivitäten, wie sie gerade der Kläger unternommen hat, nicht auf eine exponierte Regimegegnerschaft geschlossen werden kann. Die Betätigungen des Klägers unterscheiden sich qualitativ nicht von den als bloße Mitläuferhandlungen zu wertenden Aktivitäten. Insoweit handelt es sich vielmehr um asyltaktisches Verhalten. Aktivitäten wie die Teilnahme an Demonstrationen und das Verteilen von Zeitungen halten sich im Rahmen üblicher exilpolitischer Bemühungen und dienen primär dem Bestreben der Asylbewerber, ein bislang nicht erlangtes Aufenthaltsrecht zu ermöglichen. Dieses gilt auch für die Veröffentlichung von zwei Artikeln zur Lage der Kurden in Syrien im Internet. Der Inhalt der Artikel geht qualitativ nicht über das hinaus, was seit Jahren immer wieder veröffentlicht wird. Vor diesem Hintergrund ist nicht wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte gerade den Kläger als ernstzunehmenden Regimekritiker wahrnehmen.

Eine asyl- bzw. flüchtlingsschutzrelevante Gefährdung besteht für den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deshalb, weil nach verschiedenen Berichten nach Syrien abgeschobene Personen dort nach ihrer Rückkehr nicht nur - wie nach der Auskunftslage üblich - vorübergehend festgehalten und befragt oder verhört, sondern zum Teil inhaftiert worden sein sollen, wobei sie möglicherweise menschenunwürdigenden oder erniedrigenden Haftbedingungen oder Verhörmethoden ausgesetzt gewesen sind. Auch nach in Kraft treten des Rückführungsabkommens bestehen bislang keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine generelle Gefährdung aller kurdischen Volkszugehörigen bei ihrer Rückführung (ebenso: OVG Münster, Beschlüsse vom 15. April 2010 - 14 A 237/10.A - und vom 19. April 2010 - 14 A 729/10.A -, jeweils juris; VG Saarland, Urteil vom 26. Januar 2010 - 2 K 273/09 -, juris; VG Osnabrück, Beschluss vom 19. November 2009 - 5 B 114/09 -).

Die Möglichkeit von Schikanen durch syrische Behörden bei der Wiedereinreise ist seit langem bekannt. So berichtet das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten schon seit Jahren von einer nicht auszuschließenden Gefahr der Inhaftierung von Rückkehrern nach Syrien (vgl. z.B.: Lageberichte vom 11. September 2001 und 15. April 2004). Nach den Lageberichten vom 05. Mai 2008 und 09. Juni 2009 werden rückgeführte Personen bei einer Einreise zunächst über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt; diese Befragungen können sich danach über mehrere Stunden hinziehen. In manchen Fällen wird der Betroffene für die folgenden Tage noch einmal zum Verhör einbestellt. In Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsüberprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten werden, was selten länger als zwei Wochen dauere. Vereinzelt gebe es Fälle, in denen aus Deutschland abgelehnte Asylbewerber bei der Einreise wegen politischer Aktivitäten verhaftet und mindestens in einem Fall auch anschließend von einem Militärgericht in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden seien. Auch die schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet wiederholt (z.B. Update vom 20. August 2008 - Aktuelle Entwicklungen) von vorübergehenden Verhaftungen von aus dem Ausland zurückkehrenden Personen, wobei sich die Repressionen danach offenbar nicht auf abgeschobene Personen beschränkten. So hätten sich etwa während der Sommerferien 2007 viele Besucher und Rückkehrer beklagt, dass sie bei einer Einreise stundenlang inhaftiert, befragt und gedemütigt geworden seien; ohne Bezahlung von Bestechungsgeldern hätten sie den Flughafen in Damaskus nicht verlassen können. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung für alle unverfolgt ausgereisten Rückkehrer wurde in der Vergangenheit aus diesen Umständen nicht hergeleitet.

Darauf, dass sich die geschilderten Zustände zwischenzeitlich in einer Weise geändert haben, dass nunmehr allgemein von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Rückkehrgefährdung für nach Syrien abgeschobene Asylbewerber (aus asylerheblichen Gründen) ausgegangen werden kann, deuten die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht hin. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen wenige Einzelfälle der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern, die nach ihrer Ankunft in Damaskus von syrischen Stellen festgehalten wurden. Die Diskussion um diese Fälle hat unter anderem dazu geführt, dass auf Länderebene - ohne dass die Voraussetzungen für den Erlass eines Abschiebungstopps gesehen wurden - Abschiebungen vorübergehend ausgesetzt wurden. Seine aufgrund eines Ersuchens des Bundesministeriums des Inneren zunächst unterbrochene Entscheidungspraxis (dazu Schreiben des BMI an die Innenministerien/Innensenatoren der Länder vom 16. Dezember 2009) hat das BAMF inzwischen wieder aufgenommen. [...]