OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.09.2010 - 8 ME 144/10 - asyl.net: M17611
https://www.asyl.net/rsdb/M17611
Leitsatz:

1. Aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Ausweisungsverfügung, da nicht feststeht, ob der Kläger vor seiner Inhaftierung mit seiner deutschen Ehefrau in familiärer Lebensgemeinschaft lebte und deshalb besonderen Ausweisungsschutz genießt.

2. Auch die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen (§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG) ist ermessensfehlerhaft, da zwar objektiv ein Ausweisungsgrund vorliegt, ohne dass es darauf ankäme, dass der Ausländer auch ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. Das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes führt jedoch nicht zwingend zur Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen (§ 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG).

 

Schlagwörter: Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, deutscher Ehegatte, familiäre Lebensgemeinschaft, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Ermessensausweisung, Ermessen, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Ausweisungsgrund
Normen: AufenthG § 54 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 55, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 27 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet. [...]

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen, unter denen die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen bzw. anzuordnen ist, erfüllt, weil sich der angefochtene Bescheid des Antragsgegners vom 8. April 2010 bei der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig erweist und die danach vorzunehmende Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers ausfällt.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Ausweisungsverfügung ihre Rechtsgrundlage in § 54 Nr. 1 AufenthG finden kann. Danach wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Hier wurde der Antragsteller unter anderem vom Amtsgericht B. mit rechtskräftigem Urteil vom 11. Juni 2009 - 9 Cs 75/09 (455 Js 6612/09) - wegen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt.

Ob dem Antragsteller besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, der hier allein in Betracht zu ziehen ist, zu gute kommt, ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes offen. Nach dieser Bestimmung genießt ein Ausländer, der mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Hier ist der Antragsteller nach wie vor mit der deutschen Staatsangehörigen, Frau C., verheiratet. Ob der Antragsteller mit seiner Ehefrau bis zu seiner Inhaftierung am 8. April 2010 (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts: Nr. 56.1.4.2 i.V.m. Nr. 56.1.3 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom 26. Oktober 2009, GMBl. S. 877) auch tatsächlich in einer familiären Lebensgemeinschaft zusammen gelebt hat, wie es § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG fordert, oder die Eheleute sich dauerhaft getrennt hatten, steht nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung nicht fest.

Eheleute leben dann in einer familiären Lebensgemeinschaft zusammen, wenn sie nach außen erkennbar eine auf Dauer angelegte, durch enge persönliche Verbundenheit, intensive Kontakte und gegenseitigen Beistand geprägte Beziehung führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.12.1997 - 1 C 19/96 -, BVerwGE 106, 13, 18; Bayerischer VGH, Beschl. v. 25.11.2009 - 19 CS 09.2696 -, juris Rn. 5; Sächsisches OVG, Beschl. v. 24.1.2002 - 3 B 603/00 -, InfAuslR 2002, 297, 298; GK-AufenthG, Stand: August 2010, § 27 Rn. 64 jeweils m.w.N.). In welcher konkreten Art und Weise diese gemeinsame Lebensführung verwirklicht wird, obliegt der durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten freien Gestaltung durch die Eheleute (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81, 92; BVerwG, Urt. v. 23.3.1982 - 1 C 20/81 -, BVerwGE 65, 174, 181; Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl., Art. 6 Rn. 3a und 5). Eine familiäre Lebensgemeinschaft setzt daher nicht zwingend eine häusliche Gemeinschaft voraus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, InfAuslR 2009, 150, 151; BVerwG, Urt. v. 9.12.1997, a.a.O.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 25.11.2009, a.a.O.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 22.6.2000 - 3 M 35/00 -, InfAuslR 2001, 128, 130; GK-AufenthG, a.a.O., Rn. 68 ff.), auch wenn der Grundtypus der familiären Lebensgemeinschaft die häusliche Lebensgemeinschaft ist, in der sich die persönliche Verbundenheit der Eheleute nach außen erkennbar zeigt. Besteht eine solche häusliche Gemeinschaft nicht, fehlt es zugleich an einem bedeutenden Indiz für eine gemeinsame Lebensführung der Eheleute. Es bedarf daher anderer nach außen erkennbarer Anhaltspunkte dafür, dass die gewählte Ausgestaltung der Beziehung die für eine familiäre Lebensgemeinschaft notwendigen Voraussetzungen einer engen persönliche Verbundenheit, intensiver Kontakte und gegenseitigen Beistands erfüllt.

Hier haben der Antragsteller und seine Ehefrau nach ihrer Heirat im Januar 2004 in Kroatien und der nachfolgenden Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet zusammen in der gemeinsamen Wohnung in D., E., gelebt. Nach einer Überprüfung der Verhältnisse vor Ort durch den Antragsgegner am 8. Mai 2006 haben sich keine Bedenken am Bestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft ergeben. [...]

Ob die so beschriebenen Anhaltspunkte auch genügen werden, um das Gericht im Hauptsacheverfahren vom tatsächlichen Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft der Eheleute in einer den Anforderungen des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO genügenden Weise zu überzeugen, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls für das Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ist von der Möglichkeit auszugehen, dass die Eheleute bis zur Inhaftierung des Antragstellers eine familiäre Lebensgemeinschaft geführt haben.

Ausgehend von dieser Annahme genießt der Antragsteller im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Er kann daher nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Liegen, wie hier, die Voraussetzungen des § 54 AufenthG vor, ist die Regelausweisung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zudem zur Ermessensausweisung herabgestuft. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel nur in den hier nicht einschlägigen Fällen der §§ 53, 54 Nrn. 5, 5 a und 7 AufenthG vor. Darüber hinaus können zwar auch bei anderen Regelausweisungstatbeständen des § 54 AufenthG schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.v. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gegeben sein (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 2.6.2000 - 18 B 1121/99 -, juris Rn. 16 (zu § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG); Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 2010, AufenthG, § 56 Rn. 22). Zur Annahme solcher bedarf es aber jedenfalls einer konkreten Einzelfallbetrachtung, die einerseits die der Ausweisung zugrunde liegenden Taten und persönlichen Umstände ihrer Begehung würdigt und eine dem Einzelfall gerecht werdende Gefahrenprognose trifft, und andererseits das Überwiegen des sich hieraus ergebenden öffentlichen Interesses an einer Ausweisung gegenüber dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers begründet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 -, NVwZ 2007, 1300, 1301; Hailbronner, a.a.O., § 56 Rn. 20; Huber, AufenthG, § 56 Rn. 2).

Diesen Anforderungen genügt die Ausweisungsverfügung im Bescheid vom 8. April 2010 nicht. Der Antragsteller hat zwar eine Ermessensentscheidung getroffen, da er die Ausweisung auf der Grundlage des § 55 AufenthG verfügt hat. Für den Fall des hier angenommenen besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG erweist sich diese Ermessensentscheidung aber schon deshalb als fehlerhaft, weil sie weder die sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Schutzwirkungen beachtet noch berücksichtigt, dass nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verfügt werden darf (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 2.10.1990 - 18 A 1028/87 -, NWVBl. 1991, 98).

Geht man von dem Bestehen besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aus, erweist sich die von dem Antragsgegner verfügte Ausweisung daher als voraussichtlich rechtswidrig, ohne dass es noch auf die Frage der mangelnden Befristung dieser ankäme.

Auf die im Bescheid vom 8. April 2010 darüber hinaus abgelehnte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wirkt sich die mögliche Rechtswidrigkeit der konkreten Ausweisungsverfügung nicht zwingend aus. Denn am Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlt es auch schon dann, wenn, wie hier, die Voraussetzungen eines Ausweisungstatbestandes nach den §§ 53 bis 55 AufenthG objektiv vorliegen, ohne dass es noch darauf ankäme, ob der Ausländer auch ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 5 Rn. 26; Nr. 5.1.2.1 AVwV AufenthG). Bei der hier begehrten Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kann gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aber vom Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen, die Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen also trotz Vorliegens eines Ausweisungsgrundes erteilt werden. Dass der Antragsgegner von diesem Ermessen bisher Gebrauch gemacht hätte, ergibt sich aus seinem Bescheid vom 8. April 2010 nicht. Er hat die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vielmehr als zwingend angesehen. Ausgehend vom tatsächlichen Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seiner Ehefrau erwiese sich daher auch die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis voraussichtlich als rechtswidrig. [...]